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22. Juni 1941
Überfall Hitler-Deutschlands auf die Sowjetunion
Besinnung und Mahnung – 75 Jahre danach

Der 22. Juni 1941, ein schicksalsschwerer Tag, weckt noch heute, 75 Jahre später, speziell unter älteren Menschen, die unterschiedlichsten Erinnerungen, Gedanken, Emotionen. Bei Vielen sind es sehr schmerzliche, leidvolle. Ich gehöre zu Letzteren.
Deshalb schreibe ich auch meine ganz persönlichen Gedanken und Erlebnisse zu diesem Tag. Sie sind von Emotionen getragen, von kindlichen Erinnerungen,  die dazu beitrugen, Charakter und Persönlichkeit zu formen.
Mögen sie den Einen oder Anderen, Jüngere  zum Nachdenken anregen. 

Es sind nur wenige Episoden, die ein Sechsjähriger mit ins Erwachsenen-Leben nimmt, schemenhaft und verklärt, bruchstückartig zumeist, deutlich und markant die wenigsten. Das müssen  einschneidende, entscheidende Dinge, Ereignisse
gewesen sein, die schon im frühen Kindesalter etwas Außergewöhnliches zumindest erahnen lassen
Der 22. Juni 1941 gehörte für mich zu letzteren. Nie werde ich diesen Tag vergessen:

Es war an einem Sonntag Morgen. Ich lag noch im Bett im elterlichen Schlafzimmer, als mein hochbetagter Urgroßvater eintrat. Er war sein Leben lang Ziegeleiarbeiter gewesen und, wie ich später erfuhr, ein Sympathisant der SPD. Die Tür zum Korridor stand einen Spalt offen und ich hörte ihn mit sorgenvoller Stimme zu meiner Mutter sagen:
„Jetzt hat 'er' auch noch Russland überfallen.“ Und nach kurzem Schweigen fügte er sinngemäß hinzu: „Das hat Napoleon schon mal versucht.“
Kindliche Intuition ließen mich erahnen, dass etwas ganz Außergewöhnliches, etwas Schlimmes passiert sein müsse.
Mit „er“ , das erfasste ich damals schon, war Hitler, „unser Führer“, wie er damals genannt wurde, gemeint. Wer Napoleon war, erklärte mir bald meine Mutter.
Sie blieb an diesem Tage einsilbig, sorgenvoll, traurig.
„Hoffentlich passiert Deinem Papa nichts!“ Viel mehr war an diesem Tage von ihr nicht zu hören. Mein Vater war schon seit 1939 Soldat.

Damals war ich sechs Jahre alt.

Krieg war damals Alltag, währte schon zwei Jahre. Vater trug seit dem Uniform, wenn er – selten genug – mal nach Hause kam. Fronturlaub hieß das.
Der Krieg dominierte das Leben der Menschen, auch von uns Kindern.
Erfolgsmeldungen bestimmten das öffentliche Leben. Vom unaufhaltsamen Vormarsch der tapferen deutschen Wehrmacht, von Siegen und Eroberungen, von der Überlegenheit des Deutschen Reiches war die Rede, so tönte es aus unserem kleinen
Rundfunkgerät, einem „Volksempfänger“, im Volksmund auch „Göbbelsschnauze“ genannt. Aber das durfte  man nicht sagen, war verboten.
Auch in der Schule, die ich dann im Herbst des gleichen Jahres besuchte, hörten wir die gleichen Töne.

Anders bei uns im Elternhaus.
Dort dominierten Sorge und Angst um „unsere“ Soldaten, sechs aus unserer Großfamilie. Nur zwei von ihnen sind zurückgekehrt.   Mein Vater war nicht unter ihnen .

Mit zunehmender Dauer des Krieges vermehrten sich auch die Sorgen um die eigene Existenz. Aus den anfänglichen Erfolgsmeldungen waren bald Meldungen über planmäßigen Rückzug, heldenhafte Abwehrschlachten, Verluste geworden. Erstmalig hörte ich auch vom “Heldentod“ tapferer Soldaten. Ich soll meine Mutter einmal gefragt haben, ob denn das ein besserer Tod sei. So hat sie mir zumindest später einmal erzählt.
Lebensmittelrationierungen, zunehmende Luftangriffe, nächtliche Fliegeralarme ließen uns den Frieden herbeisehnen. Ich lernte den Krieg regelrecht hassen, intuitiv, so wie man als Kind eben etwas hasst.
Den 8. Mai 1945 habe ich als Befreiung erlebt, ganz einfach als Befreiung vom verhassten Krieg.

Erst später, in den Jahren nach dem Krieg, während des Aufbaus der antifaschistisch-demokratischen Ordnung und in den Gründerjahren der DDR, als FDJler, erfuhr und verstand ich die Wahrheit.

Ich erfuhr die Wahrheit über Hitler und seinen Größenwahn, seine Rassenhysterie, seine „Theorie“ Volk ohne Raum, verstand den dem System innewohnenden Antikommunismus und Antibolschewismus einzuordnen, erhielt Kenntnis vom „Plan Barbarossa“, wie der „Rußlandfeldzug“ genannt wurde und verstand politische und militärische Zusammenhänge zunehmend besser.

Das geschah in den Jahren der Hoffnung, des Aufatmens nach dem schrecklichen Krieg, der nichts als Not, Elend und verbrannte Erde hinterließ.
Mehr als 50 Millionen Tote, davon allein 27 Millionen aus der Sowjetunion, 6 Millionen Polen; die Zerstörung von 1700 Städten, 70000 Dörfern und ca. 6 Millionen Gebäude, allein in der Sowjetunion wurden grausame Opfer dieses verbrecherischen Zerstörungswahns.

Nie wieder Krieg!
Diese befreiende Losung, eigentlich mehr ein Programm, eine Verpflichtung, fand damals millionenfachen Widerhall in aller Welt. Damals! 

Doch die einstige Anti-Hitler-Koalition war nicht von langer Dauer.
Schon bald führte die Systemauseinandersetzung zu neuen Spannungen. Die Westmächte fürchteten um ihre Einflussphähren, der alte Antikommunismus trieb neue Blüten und schon bald war jene Verbündete gegen Hitler, die den Hauptanteil am Sieg über das faschistische System hatte, die größten Lasten getragen und die  mit Abstand meisten Opfer zu beklagen hatte, die Sowjetunion, der Hauptfeind.

In dieser Zeit, 1952, wurde ich Soldat, beseelt einzig und allein von dem Gedanken „Nie wieder Krieg!“  Ich wollte mithelfen, einen solchen zu verhindern.

Jahrzehnte des Kalten Krieges folgten. Zwei hochgerüstete Militärkoalitionen, Warschauer Vertrag und NATO, standen sich unversöhnlich gegenüber.
Auch unsere Nationale Volksarmee der DDR, deren 60. Gründungstag wir in diesem Jahr festlich begingen, trug in den 34 Jahren ihres Bestehens als angesehenes Mitglied des WV wesentlich dazu bei, das in unserer Verfassung festgeschriebene hehre Ziel, die Erhaltung des Friedens, zu erreichen.
Es erfüllt noch heute mit Stolz, in einer solchen Armee, die von Jenen verteufelt wird, die den Auftrag haben, sie im Nachhinein als nicht legitim zu diffamieren, und die zugleich von Anderen – nicht nur von unseren Freunden – zu den besten Armeen der Welt gezählt wird, gedient zu haben.
Es bleibt dabei: Wir waren die einzige deutsche Armee, die keinen Krieg geführt hat und die in keine bewaffneten Auseinandersetzungen verwickelt war.
Weil in der DDR die richtigen Lehren aus unserer leidvollen Geschichte gezogen wurden.

Um so bitterer ist es, wenn man  gegenwärtig mit wachem Verstand das Weltgeschehen verfolgt und sich die Frage stellt:
Und heute, 75 Jahre später? 75 Jahre, nachdem das Inferno 2. Weltkrieg mit dem Überfall des Faschistischen Deutschlands auf die Sowjetunion kulminierte?

Die Welt ist wieder aus den Fugen geraten. Kriege gehören erneut zur Tagesordnung der Weltpolitik. Das Monopolkapital drängt die Politik zu immer neuen Abenteuern, um Einflusssphären und Macht zu sichern. In nahezu allen Regionen der Welt brennt es. Millionen Menschen befinden sich auf der Flucht, um ein menschenwürdiges Dasein zu finden oder Kriegen zu entfliehen.

Losungen von einst, wohlgemerkt solche, die schon in der Göbbels'schen Propaganda  Unheil stifteten, wie die „Gefahr aus dem Osten“ und dem „Volk ohne Raum“ sind längst wieder ausgegraben und haben Eingang gefunden in das politische Vokabular der Gegenwart.

Militärische Kontingente der NATO rücken näher an die Grenzen Russlands heran,
Truppenstationierungen in den baltischen Ländern, in Ostpolen, in Rumänien sind vollzogen oder geplant, von einem Raketenabwehr-System (ein Schelm, wer Böses dabei denkt) ist die Rede, Obama fordert mehr militärisches Engagement von den Europäern, von multinationalen Verbänden ist die Rede – alles, um der „drohenden Gefahr aus dem Osten“ zu begegnen und dem IS -Terror Einhalt zu gebieten.
Welch eine Lüge, welch eine Heuchelei!

Und Deutschland mit seiner Bundeswehr mittendrin, das ist die nüchterne Bilanz.
Vom Bundespräsidenten, Herrn Gauck, auf der Münchener Sicherheitskonferenz höchst offiziell angekündigt und in die Welt hinausposaunt, vom Bundeskabinett angeschoben und von Frau Minister mit Freuden in die Realisierungsphase befördert:
Deutschland muss wieder mehr Verantwortung übernehmen in der Welt.
Erstmals seit dem Kalten Krieg (war er eigentlich jemals zu Ende?, Nein! sagt der Autor) wird wieder aufgerüstet. Neue Milliarden-Investitionen für die Ausrüstung und Bewaffnung der Truppe und personelle Aufstockung künden davon, dass die Ära der Abrüstung für die Bundeswehr vorbei ist. „Es ist Zeit für die Bundeswehr wieder zu wachsen“, so Frau von der Leyen erst Anfang Mai im Bendler-Block. Reichen die vielen Auslandseinsätze, an denen die Bundeswehr gegenwärtig beteiligt ist, nicht mehr aus? Sind die Opfer nicht Mahnung genug?

Unser Verband, der „Verband zur Pflege der Traditionen der Nationalen Volksarmee und der Grenztruppen der DDR“ und mit ihm sicher Tausende ehemalige Soldaten wenden sich mit aller Entschiedenheit gegen das Vergessen.
Millionen Opfer des brutalen Vernichtungskrieges, der vor nunmehr 71 Jahren mit der bedingungslosen Kapitulation Hitlerdeutschlands endete, sind uns Mahnung und Verpflichtung.
Am Vorabend des 75. Jahrestages des Überfalls Hitlerdeutschlands auf die Sowjetunion verneigen wir uns vor den Opfern und erneuern unser Bekenntnis zum Frieden, dokumentiert im gemeinsamen Aufruf unseres Verbandes mit ISOR „Soldaten für den Frieden“ vor einem Jahr zum 70. Jahrestag der Befreiung.
Wir bekräftigen erneut unsere feste Überzeugung, dass Kriege und bewaffnete Auseinandersetzungen untaugliche Mittel zur Lösung der die Welt bewegenden Probleme sind.
Wir brauchen ein friedliches Miteinander mit unseren Nachbarn und allen Ländern dieser Erde.
Wir brauchen ein friedliches Deutschland, ein friedliches Europa, eine friedliche Welt.    
Es darf keinen erneuten 22. Juni 1941 geben!


Manfred Grätz
Generalleutnant a.D.

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