Aus: Ausgabe vom 12.03.2022, JUNGE WELT Seite 12 / Thema Krieg in der Ukraine

Daheim ist, wo der Hauptfeind steht

Antiimperialismus – aber richtig. Besser ein sachliches Urteil zum laufenden Krieg in der Ukraine als eine vorschnelle Positionierung. Die Linke sollte es dabei mit Lenin und Liebknecht halten

Von Felix Bartels

 

Viele entdecken ihre Friedensliebe erst dann, wenn zur Abwechslung mal wer anders als die NATO Bomben wirft. Demgemäß ist Russland nichts als Täter, die Ukraine nichts als Opfer und der sogenannte Westen nichts als Beobachter, der jetzt aber schnell helfen soll. Wer nach Zusammenhängen fragt, gilt als Kriegsrechtfertiger. (Kundgebung in Kiel, 26. Februar)

Von Felix Bartels erschien am 26. Oktober 2021 auf diesen Seiten zuletzt ein Textauszug über den Dramatiker Peter Hacks: »Die Welt hinter den Stücken«.

Wer dieser Tage ein Gedächtnis hat, braucht für Anfeindungen nicht zu sorgen. Man räumt schon irgendwie ein, dass der Ukraine-Krieg eine Vorgeschichte habe, die NATO seit 1991 Expansion gen Osten betreibe und ihrerseits auf eine stattliche Geschichte militärischer Aggression zurückblicken könne. Doch findet man, es sei jetzt nicht der richtige Zeitpunkt, all das zu erwähnen. Vermutlich, weil in der Geopolitik nichts mit irgendwas zusammenhängt.

Der Vorwurf des Whataboutism ist schneller da, als man »Druschba« sagen kann. Und er kommt gerade von Leuten, die jetzt Waffenlieferungen und Aufrüstung herbeirufen. Oder gleich Kampfeinsätze. In jedem Fall von der Front aller, die die einseitige Sicht auf den Konflikt zu einer Sache des Gewissens erhoben haben und mit Macht ein Bild durchsetzen, demzufolge Russland nichts als Täter, die Ukraine nichts als Opfer und der sogenannte Westen nichts als Beobachter sei. Wer nach Zusammenhängen fragt, gilt ihnen als Kriegsrechtfertiger. Während offensichtlich ist, dass sie ihre Friedensliebe immer erst dann entdecken, wenn zur Abwechslung mal wer anders als die NATO Bomben wirft. Und weil sie nicht länger verbergen können, dass ihr kategorischer Imperativ in Scherben liegt und sie systematisch mit zweierlei Maß messen, bügeln sie jeglichen Hinweis darauf als Whataboutism weg.

Große und kleine Geister

Bevor man seine Kampflinien ordnet, sollte man sich im Kopf ordnen. Denn dieser Schritt kann später nicht mehr nachgeholt werden. Tun wir für einen Moment mal so, als wüssten wir gar nichts; naiv hinsehen statt elaboriert glotzen: Den Bürgerkrieg in einem benachbarten Land zum Vorwand nehmen, dessen Souveränität zu verletzten, es anzugreifen und den von der unterdrückten Minderheit bewohnten Teil mit Gewalt aus ihm herauszulösen, um diesen militärischen Akt dann nachträglich durch ein auf diesen Teil des Landes beschränktes Referendum zu legitimieren – in dieser Beschreibung lässt sich, solange man keine Namen nennt, sowohl der Krieg in der Ukraine als auch der im Kosovo wiedererkennen. Russland vollzieht heute Schritte, die die NATO seit Jahrzehnten vortanzt.

Und ebenso auf dem Gebiet der psychologischen Kriegführung. Schon länger herrscht hierzulande sorgfältig eingeübte Empörung über deutschsprachige Ableger russischer Staatsmedien und sogenannte Trollfabriken, die die Bevölkerung der westlichen Staaten beeinflussen. Man fühlt sich zersetzt und weist zudem darauf hin, dass die russische Propaganda keineswegs bloß die antiimperialistische Linke adressiert, sondern auch rechte Kreise, wodurch eine oppositionelle Querfront Anschub bekomme. Halten wir fest: Ein Land versucht durch mediale Mittel und direkte finanzielle Förderung eine politisch disparate (links-rechte) Opposition eines anderen Landes zu stärken, betreibt also Zersetzung mit dem langfristigen Ziel, dort einen politisch genehmen Kurs zu erzwingen. Das ist nun nicht bloß gängige Praxis der US-amerikanischen Außenpolitik seit 1945, es ist exakt das, was westlicherseits und sichtbar ab 2004 auf dem Kampffeld Ukraine betrieben wurde.

Die kollektive Panik, die die Deutschen gerade erfasst – beständig schwankend zwischen Friedenssehnsucht und Bereitschaft zum Krieg –, lässt sich demnach auch als Ausdruck einer Kränkung deuten. Man geht unbewusst davon aus, dass es das natürliche Recht des Westens sei, andere Länder zu überfallen oder zu zersetzen, um dort eine Lebensweise zu etablieren, die der eigenen entspricht, und bei dieser Gelegenheit auch gleich die Grundlagen für wirtschaftliche Investitionen zu schaffen. Wieviel postkoloniale Anmaßung in dieser Sicht der Dinge steckt, wird offenbar, sobald jemand es dem Westen gleichtut, dem das einfach nicht zustehe, ein postzaristischer Autokrat zum Beispiel. Ein zweiter Antrieb scheint in der deutschen Geschichte zu liegen. Die Deutschen haben mit den Russen ebenso ihr Issue wie mit den Juden; sie suchen in der Jetztzeit Möglichkeiten, die Last der Vergangenheit abzutragen, suchen, um ein Wort von Eike Geisel zu nehmen, Wiedergutwerdung. Die Ukrainer geraten den Deutschen dabei zum Stellvertretervolk, durch das die Nachfahren der Täter sich zum Opfer hin identifizieren können. Der dritte Antrieb der Angst scheint tatsächlich Angst zu sein. Authentische Sorge darum, dass Europa zum weiten Kriegsfeld werden und der Russe demnächst an den Seelower Höhen stehen könnte. Bloß setzt diese Angst einerseits ein völliges Verkennen der eigentlichen militärischen Kräfteverhältnisse zwischen Russland und den transatlantischen Staaten voraus, wie sie zum andern wiederum eurozentristisch ist. Kriege und Massenfluchten – weitaus schlimmer, weitaus größer als jetzt – waren und sind in anderen Teilen der Welt an der Tagesordnung, nicht selten von eben den westlichen Ländern betrieben, deren Bewohner jetzt echt Angst kriegen.

Solcherart affektiv aufgeladen, muss der mediale Diskurs von vulgären Formen dominiert sein. Man beißt sich fest an der charismatischen Figur Putin, die für die einen einfach Hitler, für die anderen schwer verwirrt und für die große Schnittmenge beider Gruppen das eine wie das andere ist. Der Radau erinnert ein wenig an den Gossip um Donald Trump. Diese Art der kritischen Bewältigung verunmöglicht eine tatsächliche Bewältigung.¹ Das aus sicherer Entfernung zelebrierte Dämonisieren oder Lächerlichmachen charismatischer Herrschaft reproduziert im übrigen ihre Mechanismen. »Wer einen Diktator einen Dämonen nennt, verehrt ihn heimlich«, hämmert Friedrich Dürrenmatt 1947 in seine Schreibmaschine. Aber nicht bloß das Verbeißen in die Person behindert Erkenntnisarbeit. »Great minds discuss ideas; average minds discuss events; small minds discuss Vladimir Putin« (Große Geister debattieren über Ideen, mittelmäßige über Ereignisse, und kleine reden über Putin), schrieb der kommunistische Unternehmer Dmytri Kleiner vor ein paar Tagen. Der Satz ist so gut, dass wir für einen Augenblick drüber hinwegsehen können, dass er lediglich auf Twitter veröffentlicht wurde.² Er fasst ziemlich, was dieser Tage passiert. Wenige diskutieren Produktionsverhältnisse oder entwickeln Begriffe von Frieden, Krieg und Imperialismus. Viel zu viele reden über Truppenbewegungen, Pressekonferenzen und unbestätigte Meldungen. Unerträglich viele quasseln über Putins gestörten Charakter und seinen langen Verhandlungstisch.

Emphase statt Begriff

Um auf den Begriff zu kommen, muss man sich vom platten Ereignis lösen. Gewiss ist Sorge zu tragen, dass der Kontakt zur Wer-wann-was-Ebene nicht abreißt, doch Erkenntnisarbeit findet tiefer statt. Auch Geopolitik erfasst sich logisch-historisch, nicht historisch-logisch. Das im Schädel, lässt sich eine Linie von Thukydides zu Lenin ziehen. Mit drei einfachen Worten schuf der Vater der materialistischen Historiographie eine nie wieder erreichte Universalität. Lenins Analyse wäre ohne den von Thukydides bestellten Boden nicht standfähig. In der »Geschichte des Peloponnesischen Kriegs« werden drei Wurzeln des Kriegs benannt: Angst, Ehrgeiz und Gewinn.³ Wenn wir den gegenwärtigen Konflikt betrachten, erkennen wir alle drei wieder. Da ist die Sorge um die Osterweiterung der NATO. Das mächtigste Militärbündnis der Welt, bekannt für seine Gewohnheit, außerhalb des Bündnisgebiets zu agieren, hat Russland zum Hauptfeind erklärt und rückt seit Jahrzehnten näher heran. Da wäre die lange Missachtung Russlands durch den Westen, von der Putin auch in seiner Rede am 23. Februar wieder sprach, ein anmaßendes Verhalten von oben herab, das den Ehrgeiz Russlands herausfordern musste. Und zum dritten sind selbstverständlich ökonomische Interessen im Spiel, für die der präsente Konflikt um Nord Stream 2 nur das jüngste Beispiel ist.

Warum aber besteht alle Welt darauf, statt dessen über Selbstbestimmungsrechte von Völkern und Legitimität von Kriegen zu sprechen, ganz so, als würde der Krieg jetzt weniger furchtbar, wenn er völkerrechtlich in Ordnung ginge? Weil jeder Versuch, ihn sachlich zu fassen, nicht mehr gestattete, sich vorschnell zu positionieren. Es gibt ein immenses Bedürfnis nach emphatischen Bestimmungen.

Zugegeben hängt auch dem Begriff des Imperialismus was Emphatisches an. Gemeinhin wird er als Wertung verstanden. Doch materialistische Auffassung geht von vorhandenen Strukturen aus. Wenn man Lenins Merkmale über den Komplex legt, erhält man weitgehende Übereinstimmung. In den NATO-Staaten wie auch in Russland gibt es eine entwickelte monopolkapitalistische Struktur, einen ausgeprägten Bankensektor und eine Finanzoligarchie. Beim Verhältnis von Kapitalexport und Warenexport ließe sich einschränken, dass Russland weniger global investiert als etwa die USA und Deutschland. Sein Kapitalexport beschränkt sich auf eine Zahl von Ländern, mit denen es traditionell Beziehungen pflegt. Aber genau in diesen Beziehungen liegt ein Schlüssel des gegenwärtigen Konflikts.

Das wichtigste Merkmal, das Lenin zur Erklärung des imperialistischen Kriegs anführt, ist die Aufteilung der Welt. Oder vielmehr ihr Aufgeteiltsein. Imperialismus entsteht, wo die koloniale Epoche abgeschlossen ist, in der die fortgeschrittenen Mächte fremde Gebiete noch durch »Entdeckung« erobern konnten. Irgendwann ging es, amerikanisch gesprochen, nicht mehr weiter nach Westen. »Die Welt«, schreibt Lenin, »hat sich zum ersten Mal als bereits aufgeteilt erwiesen, so dass in der Folge nur noch Neuaufteilungen in Frage kommen, d. h. der Übergang von einem ›Besitzer‹ auf den anderen, nicht aber die Besitzergreifung herrenlosen Landes.«⁴ Diese Neuaufteilung drängt sich nach Lenin deswegen immer wieder auf, weil die Entwicklung des Kapitalismus in seiner monopolistischen Phase ungleichmäßig abläuft.

Vielleicht lässt Russland sich am ehesten als Land beschreiben, das den Möglichkeiten nach eine Großmacht, dem Handeln nach aber Mittelmacht ist. Seine imperialistischen Strukturen kommen aufgrund der sekundären Stellung im internationalen Machtgefüge sowie am Weltmarkt nicht voll zur Wirkung. Sein militärisches Agieren entspricht dem. Anders als die Hegemonialmacht USA konzentriert Russland sich auf seine regionalen Einflussgebiete. Die Kriege, die es führt, finden in Tschetschenien, Georgien und der Ukraine statt; sie sind – mit der einen Ausnahme Syrien – im Grunde Grenzkonflikte. Die Kriege der USA finden in Afghanistan statt, im Irak, in Libyen, Somalia oder Jugoslawien – vom weltweit geführten Drohnenkrieg, der unterm Radar ständig mitläuft, gleich ganz zu schweigen.⁵

Expansion in die Krise

Die Neuaufteilung kann, muss aber nicht in Form veritabler Eroberung passieren. Ziel imperialistischer Ausdehnung ist die Erschließung neuer Absatzmärkte, weniger lohnintensiver Arbeitsmärkte, neuer Rohstoffquellen und (vom Panamakanal bis Nord Stream) die Sicherung weitläufiger Distributionswege. Und natürlich kann Raumkontrolle auch im Sinne der Sicherheitspolitik imperialistisch relevant sein. Die Zerschlagung Jugoslawiens etwa, gefördert von westlichen Außenpolitikern, lässt sich mit vordergründig ökonomischen Interessen kaum erklären. Vielmehr scheint es zu Beginn der neunziger Jahre darum gegangen zu sein, einen letzten Unsicherheitsfaktor aus dem Schengen-Raum zu eliminieren. Der innere Frieden der EU beruht auf diesem Krieg.

Wo diplomatische Hebel, wirtschaftliche Druckmittel, mediale Zersetzung, Attentate und andere Geheimdienstoperationen sowie gezielt entfachte und munter mit Waffen belieferte Stellvertreterkriege ihren Zweck erreichen, sind selbst geführte Drohnenkriege, Bombardements, Bodenkriege und Besetzungen nicht nötig. Die NATO kann zwei Arten Kriege, offene oder verdeckte. Und ich denke, dass die Jahrzehnte seit ihrer Gründung genügend Material angehäuft haben, um festzustellen, dass sie die verdeckten besser kann.

Die Ukraine war lange Zeit Objekt eines solchen verdeckten Kriegs. USA und EU rangen mit Russland um dasselbe ökonomische Einflussgebiet. Doch damit enden die Gemeinsamkeiten, und die Unterschiede beginnen. Sie liegen im Kräfteverhältnis sowie darin, wer agiert und wer reagiert. Diese Frage nach dem Kontext darf nicht, sie muss gestellt werden.

Gut möglich, dass Putins berühmte Formel von der »multipolaren Weltordnung« einfach seiner Lage geschuldet ist. Vermutlich würde er die Möglichkeit einer Expansion, wie die NATO sie treibt, nicht einfach liegen lassen, sofern sie sich ihm böte. Auch die Chance auf eine hegemoniale Stellung dürfte er im Fall der Fälle nicht ausschlagen. Doch er ist in der Lage, in der er ist, und er hat gehandelt, wie er gehandelt hat. Das auszublenden dient keinem anderen Zweck als dem, das Agieren der NATO aus der Rechnung zu streichen, was der elementare Trick im gegenwärtigen Feldgeschrei zu sein scheint. Es sind die westlichen Staaten, die seit Jahrzehnten versuchen, in die östlichen Wirtschaftsgeflechte einzudringen und traditionell bestehende Handlungsbeziehungen zu zerstören. Sie tun das nicht aus Lust an der Konfrontation, sondern um eigene Krisen zu kompensieren. Kaum wer hat bislang einen Zusammenhang zwischen der Euro-Krise 2010 und der Ukraine-Krise 2014 hergestellt. Die meisten NATO-Staaten sind zugleich in der EU, einem Gebilde, das immer wieder in Krisen stürzen muss, weil es sein Binnengefälle (Gewinn und Verlust zwischen seinen Mitgliedstaaten) aufgrund separater Haushalte bei zugleich bestehender Währungseinheit nicht ausgleichen kann. Der Euro ist daher labil, und den betroffenen Staaten fiel ein, was dem Imperialismus immer einfällt: weiter nach Westen (bzw. hier: nach Osten). Eine Vergrößerung konnte die Strukturkrise der EU zwar nicht lösen – sie vergrößert bloß die Krise –, doch expandieren ist das einzige, was der Imperialismus wirklich gut kann. Also versucht er es.

Diese und ähnliche Kollisionen können erst verschwinden, wenn Profitinteressen gestutzt und innere Krisen der Reproduktion gelöst sind, was unter imperialistischen Bedingungen immer nur zeitweilig der Fall sein kann. Tatsächlich enden könnte es nicht eher, als die imperialistischen Gebilde und die ihnen zugrunde liegende kapitalistische Struktur zerschlagen sind. Es ist seltsam, derart basale Dinge schreiben zu müssen; jeder weiß es, und fast jeder verhält sich so, als wüsste er es nicht.

Auch die Diskussion um das Völkerrecht ist eine Form dieses Vergessens. Ein materialistischer Zugriff sollte klarstellen, dass jegliches Recht sich vermöge einer Gewalt konstituiert, die es erst nachträglich legitimieren kann. Dieses Paradoxon wohnt jeder Verfassungsbildung inne. Wie auch dem Begriff der Souveränität, insofern der Gesellschaftszustand nur gegeben sein kann, als der Souverän den Naturzustand in sich ein- und damit aus der Gesellschaft ausschließt. Zwischen Staaten ist eine solche leviathanische Position nicht herstellbar, weil eine übergeordnete Instanz der Gewalt fehlt. Auch im Imperialismus geht es um Geostrategie, Sicherheitspolitik und ökonomische Sphären. Kants Traum »Vom ewigen Frieden« war genau das, ein Traum. »Der Grundsatz des Völkerrechts«, schreibt Hegel, »ist, dass die Traktate, als auf welchen die Verbindlichkeiten der Staaten gegeneinander beruhen, gehalten werden sollen. Weil aber deren Verhältnis ihre Souveränität zum Prinzip hat, so sind sie insofern im Naturzustande gegeneinander, und ihre Rechte haben nicht in einem allgemeinen zur Macht über sie konstituierten, sondern in ihrem besonderen Willen ihre Wirklichkeit. Jene allgemeine Bestimmung bleibt daher beim Sollen.« Und er fährt fort: »Es gibt keinen Prätor, höchstens Schiedsrichter und Vermittler zwischen Staaten«.⁶ Wer die Freiheit hat, das Völkerrecht einzuhalten, tut es. Wer die Möglichkeit hat, es zu brechen, tut das auch.

Vor der eigenen Tür

Es ist vielleicht diese Anhänglichkeit an das Imperative, der Drang, jenes Sollen wie ein Sein zu behandeln, der viele Linke dazu verleiten konnte, sich die Lage schönzugucken. Lange hat man sich für Putin stark gemacht, sachlich korrekt auf seine reaktive Position im Konflikt hingewiesen, doch daraus abgeleitet, er werde schon friedlich bleiben. Insbesondere Vertreter der Linkspartei haben sich dabei weit aus dem Fenster gelehnt, und als der Krieg eintrat, sind sie hinausgefallen. Putin hat es geschafft, die Linke in Deutschland zu paralysieren. Die liegt derzeit handlungsfähig am Boden. Schockiert vom Krieg und beschämt durch ihre falschen Prognosen, fällt es ihr schwer, im Kampf gegen die Hochrüstung der NATO offensiv aufzutreten. Hätte sie sich von Beginn an einer Hegelschen oder Leninschen Nüchternheit befleißigt, stünde sie jetzt anders da. Ihren rechten Parteiflügel kümmert das weniger. Die Lederers, Ramelows und Hennig-Welsows mussten bloß die Schublade öffnen, in der lange vorbereitete Memos lagen, die ein neues – »aufgeschlosseneres« – Verhältnis zur NATO fordern. Doch beide Flügel klöppeln am selben Denkfehler. Nichts von dem, was Putin getan hat, nötigt dazu, die Einschätzung der NATO zu überdenken. Entweder war ihre Politik ab 1991 aggressiv, dann hat der russische Angriff daran nichts geändert, oder sie war es nie, dann hat der Angriff daran auch nichts geändert.

Nun scheint ein direkter und offener Eintritt der NATO in den Krieg vorerst vom Tisch. Gefährlich lang in der Luft lag er ja. Gerufen nach ihm hat weniger die Bevölkerung selbst, deren Mehrheit Krieg und Eskalation von Konflikten gewohnheitsmäßig ablehnt. Im Gegensatz zu den obligaten Exlinken, die für Achgut, Taz, Bahamas oder Die Welt schreiben – froh über eine weitere Gelegenheit, den Lesern zu zeigen, wie fleißig sie Glucksmann gelesen haben. Sie bewältigen den längst vollzogenen Verrat an linken Idealen und die damit verbundene Scham, indem sie ihr soziales Gewissen ganz auf den Kampf gegen angenehm weit entfernte Diktatoren richten und aus der mittlerweile nicht mehr ganz so gut geheizten Berliner Buchte heraus zu einem Krieg aufrufen, in dem andere dann sterben dürfen. Diese Schönwetterbellizisten verteidigen am Hindukusch nicht ihre Freiheit, sie verteidigen ihre Ehre.

Mehr als üblich rief aber auch die Nomenklatura nach dem Krieg. Etablierte Journalisten und Politiker der ersten Reihe, eigentlich geübt darin, sich deeskalierend zu geben, redeten dem vollkommen wahnsinnigen Plan eines Feldzugs gegen die russischen Streitkräfte das Wort. Friedrich Merz etwa, der am 4. März äußerte, dass die NATO vielleicht bald »Entscheidungen treffen muss, Putin zu stoppen«. Oder Sabine Adler, die sich am 1. März im RBB wie folgt vernehmen ließ: »Ich glaube, das hängt ganz davon ab, wie der Westen reagiert. Und ob wir es wirklich dabei belassen, dass wir sagen als NATO: Wir gehen da nicht rein, wir helfen da nicht. (…) Es ist die Frage, ob wir mitten in Europa 40 Millionen Menschen einfach dem Tod preisgeben.« So klingt es, wenn imperialistisch gesinnte Zaungäste einen Krieg vom Zaun brechen möchten, der überhaupt erst diese Millionen Opfer kosten würde, die verhindern zu wollen sie vorgeben.

Eine Linke, die dieser Kriegstreiberei, die dem Prinzip nach nicht neu ist, aber mit neuer Wucht über uns kommt, etwas entgegensetzen will, muss sich auf antiimperialistische Strategien besinnen, jedoch nicht im folkloristischen Sinn des Wortes. Sie muss dem Gefühlsbrei der aktuellen Friedensbewegungen entsteigen und, an Lenin und Karl Liebknecht anknüpfend, den Imperialismus als Ganzen attackieren.

Unsere Lage ist der von 1914 so unähnlich nicht. Womit ich die Form des Konfliktes meine, nicht sein Ausmaß. Auch damals waren es imperialistische Konflikte, auch damals gab es mehr und weniger starke Mächte, eher agierende und eher reagierende Seiten. Lenin konstatierte den Zusammenbruch der Zweiten Internationale und verwies darauf, dass dieser Krieg nicht der Krieg der Arbeiterklasse sein kann. Liebknecht brachte es auf die Formel: Der Hauptfeind steht im eigenen Land.

Was meint diese Formel? Es wäre paradox, davon auszugehen, dass sie eine Anleitung zur Analyse der Lage sein soll. Sobald der Hauptfeind in einem Land ausgemacht ist, kann er in einem anderen nicht mehr sein. Eine handlungsfähige Internationale ließe sich so nicht herstellen. Liebknechts Formel wäre nicht durchzuhalten. Aber die Bildung einer internationalen Volksfront, die sich auf einen globalen Hauptfeind einigt, ist nur unter bestimmten Bedingungen zwingend. Solche lagen 1934 im Angesicht des Faschismus vor, 1914 nicht und heute nicht. Dass der Hauptfeind immer im eigenen Land stehe, bedeutet nichts anderes, als dass Kommunisten oder Linke jeglichen Landes vor der eigenen Tür zu kehren haben. Nicht weil ausgerechnet der Imperialismus im eigenen Land immer die Spitze des globalen Komplexes bildet, sondern weil nur so eine echte Internationale hergestellt werden kann, die im strengen Sinn des Wortes antiimperialistisch ist. Die Formel zielt über den Inhalt hinaus auf die Haltung im Kampf. Macht und Verlockung der eigenen Regierung, des eigenen Landes, der eigenen Kultur auf ein Individuum sind immer größer als die irgendeiner ausländischen Instanz. Liebknechts Formel ist keine gegen einen Krieg (den er ohnehin nicht verhindern konnte). Sie ist eine gegen den Opportunismus.

Deutsche Linke verteidigen ihre Ehre nicht am Don, sie verteidigen sie an der Spree.

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