Russlands Botschafter im Interview

 

Russlands Botschafter Sergej Netschajew
„Wir haben nicht vor, die Ukraine zu besetzen“

Er sehe derzeit keinen Grund für einen Einsatz von Atomwaffen, sagt Sergej Netschajew, der russische Botschafter in Deutschland. Ein Gespräch über das Ansehen seines Landes im Ausland, Kriegsverbrechen an Zivilisten in Butscha und die Ziele des russischen Angriffs auf die Ukraine.

Auch acht Wochen nach Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine sind Absicht und Ziel nicht völlig klar. Russlands Botschafter Sergej Netschajew gibt in seinem ersten Interview seit Kriegsbeginn Antworten aus seiner Sicht auf offene Fragen.

In eigener Sache weisen wir darauf hin, dass die Redaktion lange diskutiert hat, ob ein Interview mit dem Statthalter der russischen Regierung zu diesem Zeitpunkt richtig ist. Wir halten es für geboten, die russische Seite mit Fragen und offenkundigen Fakten zu konfrontieren, wohl wissend, dass die Antworten zu großen Teilen russische Propaganda wiedergeben und nach übereinstimmenden Erkenntnissen internationaler Beobachter nicht der Wahrheit entsprechen.

Das Interview wurde dem Gesprächspartner wie in Deutschland üblich zur Autorisierung vorgelegt. Die Antwort-Passagen spiegeln selbstverständlich nicht die Meinung der Redaktion wider.

Herr Botschafter, Ihr Außenminister Lawrow hat am Dienstag bestätigt, dass der Krieg in der Ukraine in eine neue Phase übergegangen ist – der Schlacht um den Donbass. Darf man in Ihrem Land nach acht Wochen eigentlich sagen, dass Russland dort einen Krieg führt?

Wir bezeichnen das offiziell als eine Spezial- oder Sonderoperation zur Befreiung des Donbass und zur Entmilitarisierung und Entnazifizierung der Ukraine.

Diese Verlautbarungen sorgen in Deutschland und der Welt für Entsetzen und Empörung. Worum geht es Russland konkret?

Entmilitarisierung bedeutet konkret, dass die militärisch-technische Erschließung der Ukraine, die seit mehreren Jahren von der Nato zielstrebig durchgeführt wird, für uns inakzeptabel ist. In den acht Jahren seit dem verfassungswidrigen Staatsstreich vom Februar 2014 in Kiew haben wir alles versucht, um dieses Problem auf diplomatischem Wege zu lösen.

Sie meinen die Eskalation der Protestbewegung auf dem Majdan in Kiew. Einen Monat später hat Russland dann völkerrechtswidrig die Krim annektiert und die Gründung der sogenannten Volksrepubliken Donezk und Lugansk unterstützt.

Das waren die Folgen des Staatsstreichs in Kiew, den die Menschen auf der Krim und im Donbass nicht akzeptiert haben. Die Parolen dieses Staatsstreichs waren radikal und neonazistisch. Alles Russische in der Ukraine sollte beseitigt werden, der frühe ukrainische Nationalistenführer Stepan Bandera, der im Zweiten Weltkrieg mit den deutschen Nazis paktiert hat, weht dazu auf den Fahnen. Die Menschen auf der Krim und im Donbass, die seit Jahrhunderten wirtschaftlich, familiär und auch konfessionell mit Russland verbunden sind, wurden dagegen nicht nach ihrer Meinung gefragt.

Worauf dann prorussische Separatisten ebenfalls völkerrechtswidrig und gewaltsam die Regionen Lugansk und Donezk besetzten.

Danach ging es weiter mit der sogenannten „antiterroristischen Aktion“, die radikale ukrainische Streitkräfte im Donbass gegen Russen führten. 2015 kam es dann endlich unter Vermittlung von Bundeskanzlerin Merkel und dem damaligen französischen Präsidenten Hollande zu den Minsker Vereinbarungen, die auch vom UN-Sicherheitsrat akzeptiert wurden. Trotzdem setzte die Ukraine ihre „antiterroristische Aktion“ gegen den Donbass fort. Verbunden mit Tausenden Toten. Man muss diese ganze Geschichte kennen, um die heutige Situation zu verstehen.

Von der Geschichte, wie Sie sie erzählen, gibt es aber eben auch eine ganz andere Version. Nämlich, dass das russische Militär schon 2014 die Souveränität der Ukraine verletzt und den Krieg in der Ostukraine begonnen hat. Aber kehren wir zurück ins Heute: Wäre der Krieg zu Ende, wenn Russland den Donbass für sich erobert?

Wir haben nicht vor, die Ukraine zu besetzen.

Sie haben aber am Wochenende sogar wieder Lviv angegriffen und das ist weit weg vom Donbass.

Nicht Lviv wurde angegriffen, sondern die militärische Infrastruktur in der Nähe von Lviv.

Wenn es nur um den Donbass geht, dann irritiert aber, dass Präsident Putin am 21. Februar – drei Tage vor dem russischen Angriff – mit alten historischen Begründungen die Existenz der Ukraine als Staat in Frage gestellt hat. Dann zogen die russischen Streitkräfte gen Kiew los und man konnte die Vermutung haben, dass dort die Regierung gestürzt werden sollte. Nachdem dies nicht gelang, geht es nun wieder um den Donbass. Weiß die russische Führung nicht, was sie will und macht sie sich keine Gedanken, wie das im Ausland aufgenommen wird?

Wissen Sie, weshalb dieser Informationsmangel entsteht? Weil unsere Informationen und Ansichten, die wir dem Westen über unsere Anliegen vermitteln wollen, nicht gegen den Mainstream durchdringen. Bereits in unseren Verhandlungsvorschlägen gegenüber den USA und der Nato im Dezember 2021 hatten wir auf einen neutralen Status der Ukraine gedrungen. Doch noch auf der Münchner Sicherheitskonferenz am 18. Februar 2022 stellte der ukrainische Präsident Selenskyj die Forderung, dass sein Land in die Nato aufgenommen werden sollte. Er sprach sogar von der Möglichkeit der erneuten atomaren Bewaffnung der Ukraine. Im Westen nahezu unbekannt ist auch, dass mittlerweile mehr als 700.000 Menschen aus dem Donbass nach Russland geflüchtet sind, darunter 150.000 Kinder. Sie bekommen bei uns Unterkunft und Sicherheit. Denn die Ukrainer sind unser Brudervolk. Präsident Putin hat recht, dass wir aus einem Stamm kommen.

Das hat die Russen aber nicht gehindert, ihr Brudervolk militärisch anzugreifen, Tausende Menschen zu töten und in Butscha Kriegsverbrechen an ukrainischen Zivilsten zu begehen. Selbst wenn man, wie Sie, den Bildern in den Medien misstraut und die vielen Augenzeugenberichte für inszeniert hält, der Bundeskanzler hätte sicher nicht ohne Beweise von einem „von russischen Soldaten begangenen Massaker“ gesprochen.

Wir gehen prinzipiell davon aus, dass die russischen Streitkräfte nicht gegen die zivile Bevölkerung kämpfen. Wir haben eine entsprechende Gesetzgebung. Wir halten uns an die Genfer Konvention, im Gegensatz zu dem, was die Ukrainer teilweise mit unseren Kriegsgefangenen machen. Als unsere Soldaten am 30. März 2022 aus Butscha abgezogen sind, gab es diese Leichen dort noch nicht. Und wir haben Zeugen, die sagen, dass alles erst einen Tag später inszeniert worden ist.

Wo sollen die Leichen denn hergekommen sein?

Die wurden extra hergeholt. Und auch wir werden ermitteln, wie das passiert ist.

Das ist wenig glaubhaft.

Wir gehen davon aus, dass dies eine Inszenierung war. Wie auch später in Kramatorsk, wo Flüchtlinge auf einem Bahnhofsplatz mit einer Rakete beschossen worden sein sollen. Auch dort wurden wir sofort bezichtigt. Doch als dann festgestellt wurde, dass der Beschuss mit einer Totschka-U-Rakete erfolgte, die nur die Ukrainer haben, und zwar aus einer von den Ukrainern kontrollierten Region, verschwand diese Nachricht sofort.

Also alles üble West-Propaganda. Fakt ist indes: Nach fast acht Wochen Krieg ist die Ukraine dem EU-Beitritt ein gutes Stück näher gerückt und wird von vielen Staaten massiv mit Waffen beliefert. Das ist doch genau das Gegenteil dessen, was Russland erreichen wollte. Hat sich Ihr Präsident verrechnet?

Je mehr Waffen, desto länger die Spezialoperation, desto schwieriger die Konsequenzen, auch für Europa. Aus unserer Sicht ist absolut klar, dass gegen uns eine Kampagne entfacht wurde. Noch einmal: Wir haben ja zunächst auf diplomatischem Wege versucht, Sicherheitsgarantien für Russland zu erreichen. Wir konnten nicht akzeptieren, dass die Ukraine zu einem Bollwerk der Nato gegen uns wird. Die erste Zeile unseres Vorschlags lautete: Russland und die Nato sind keine Gegner. Aber niemand hat darauf gehört. Stattdessen kam es zu Selenskyjs Gedanken von den Atomwaffen in der Ukraine.

Können Sie uns umgekehrt die Sorge nehmen, dass es zu einer nuklearen Eskalation dieses Kriegs von russischer Seite kommt?

Ich würde dazu aus dem Konzept unserer Verteidigungspolitik zitieren: Wir können Nuklearwaffen nur dann gebrauchen, falls es gegen uns eine Aggression mit Hilfe nuklearer Waffen gibt. Oder – als zweite Variante – wenn infolge einer Aggression von außen eine existenzielle Bedrohung für unseren Staat besteht. Diese Gefahr sehe ich derzeit nicht. Und ich sage noch etwas: Weder bei uns, noch in der Nato will man, dass es zu einem militärischen Konflikt zwischen Russland und der Nato kommt.

Wie bewerten Sie, dass unter den deutschen Parteien darüber gestritten wird, welche Art von schweren Waffen man der Ukraine noch zur Verfügung stellen sollte?

Über die Waffenlieferungen generell, aber gerade aus Deutschland bin ich natürlich sehr enttäuscht. Das habe ich ehrlich gesagt nicht erwartet.

Muss es jetzt nicht vor allem um die Beendigung des Krieges gehen?

Also ich habe von der EU noch nicht viel gehört, dass sie die Ukraine zu Verhandlungen bewegt. Stattdessen geht es um Waffenlieferungen. Und mit großer Verwunderung habe ich die Äußerung des Hohen Vertreters Josep Borrell gehört, dass der Krieg auf dem Schlachtfeld entschieden werden soll. 6500 Söldner aus verschiedenen Staaten sind bereits in der Ukraine.

In Russland fehlt die öffentliche Diskussion über die Frage: Ist es möglicherweise falsch, was unsere Politik derzeit macht? Journalisten, die diese Frage stellen, werden entweder abgeschaltet oder bedroht.

Die absolute Mehrheit unserer Bevölkerung ist davon überzeugt, dass es richtig ist, was der Präsident macht. Ich gehöre nicht zu den öffentlichen Kritikern der Medien des Landes, in dem ich zu Gast bin. Aber nehmen Sie es mir bitte nicht übel, wenn ich mit Sorge sehe, wie manche deutschen Massenmedien die russische Außenpolitik darstellen.

Eine Folge des Krieges ist auch, dass Deutsche, die grundsätzlich ein positives Verhältnis zu Russland haben, jetzt dafür kritisiert werden. Sie als Botschafter müssten doch nach Moskau melden: Leute, es läuft hier gerade sehr schlecht für uns. Muss nicht die russische Führung die Rechnung machen: Was haben wir eigentlich aufs Spiel gesetzt?

Wir haben unsere Souveränität aufs Spiel gesetzt. Unsere Sicherheit, Unabhängigkeit und selbständige Position in der Welt. Das sind unsere Prioritäten. Wir beugen uns nicht und sorgen uns um die Zukunft unserer Kinder. Wissen Sie: Es gibt auch in Deutschland viele Sympathisanten für uns. Manche davon wagen sich, Ihre Meinung öffentlich darzulegen. Und ich bekomme jeden Tag viele Briefe, für die ich dankbar bin.

Blicken wir in die nahe Zukunft: Ist der 9. Mai vielleicht der Termin, an dem man auf ein Ende des Krieges hoffen darf?

Ich möchte hier nicht spekulieren. Was ich sagen kann, ist, dass wir am 8. und 9. Mai in Berlin wie immer den Jahrestag der Beendigung des Krieges und der Befreiung Deutschlands vom Nazismus mit feierlichen Kranzniederlegungen in Treptow, Tiergarten und Pankow begehen werden. Und ich kann Ihnen sagen, dass zu der russischen Community in Berlin Menschen aus vielen Teilen der früheren Sowjetunion gehören, auch aus der Ukraine. Wir haben auch deutsche Politiker und andere Vertreter eingeladen.

 

Diplomat mit langjähriger Erfahrung
Sergej Netschajew (68) wurde in Moskau geboren und studierte Germanistik an der Lomonossow-Universtiät. Danach trat er in den diplomatischen Dienst der Sowjetunion ein und arbeitete für deren Botschaft in der DDR. Nach einer Station in der Mongolei kehrte er nach Deutschland zurück und arbeitete als Diplomat in Bonn. Von 2010 bis 2015 war er Botschafter Russlands in Österreich, danach wechselte er ins russische Außenministerium. Seit 2018 ist er Botschafter in Berlin. Netschajew ist verheiratet und hat einen erwachsenen Sohn.

21.4.2022

 

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