30.05.2022

Erholung beim Truppenbesuch


Von Arnold Schölzel

 

Die demokratischen Staaten würden die »regelbasierte internationale Ordnung« verteidigen, ein autoritäres Lager unter Führung von Russland und China versuche, diese Ordnung zu stören und zu ersetzen. Kanzler Olaf Scholz hatte diese Halluzination am 27. Februar in den Begriff »Zeitenwende« gefasst

Der Protest in vielen Ländern Asiens, Afrikas und Lateinamerikas gegen das Auftreten des Westens im Ukraine-Krieg sei nicht nur »Mittel im Machtkampf« von Populisten, schreibt Die Zeit, unter der Überschrift »Putin? Gar nicht so übel«. Viele Länder dächten überhaupt nicht daran, bei der Isolierung Russlands mitzumachen. Die sechs Verfasser des Artikels zählen nüchtern Gründe auf: »Das Erbe des Kolonialismus«, »Rebellion gegen die Doppelmoral« der Wertegemeinschaft, »Die Kosten des Krieges«, die im globalen Süden verheerend sind, sowie: »Russland wird noch gebraucht«, zum Beispiel von Israel. Schließlich fragen sie: »Was heißt hier Weltordnung?« und führen die Behauptung des kollektiven Westens an, die demokratischen Staaten würden die »regelbasierte internationale Ordnung« verteidigen, ein autoritäres Lager unter Führung von Russland und China versuche, diese Ordnung zu stören und zu ersetzen. Kanzler Olaf Scholz hatte diese Halluzination am 27. Februar in den Begriff »Zeitenwende« gefasst , die durch den Angriff Russlands auf die Ukraine ausgelöst worden sei. Nicht das Verschwinden des realen Sozialismus in Europa ist demnach die historische Zäsur der Gegenwart, sondern ein Krieg, dessen Charakter NATO und USA gerade hin zum Angriffskrieg gegen Russland ändern.

Das Scholzsche Weltbild wird jedenfalls von Staaten, die ungefähr zwei Drittel der Weltbevölkerung repräsentieren, nicht geteilt. Die Zeit-Autoren sehen das auch so und erläutern, die wenigsten Länder des globalen Südens wollten sich klar auf eine Seite schlagen. Zudem hegten selbst in Demokratien wie Indien oder Indonesien führende Politiker und Intellektuelle grundsätzliche Zweifel an der Rede von »regelbasierter Ordnung«: »Erstens seien die Regeln von den westlichen Siegermächten des Zweiten Weltkriegs gemacht worden, in vielen Punkten zum Nachteil von Entwicklungsländern. Zweitens habe der Westen spätestens mit dem völkerrechtswidrigen Irak-Krieg seine eigenen Regeln gebrochen.«

Auf seiner Afrikareise wurde der deutsche Kanzler in dieser Woche noch mit weiteren Gewalttaten konfrontiert, etwa mit Libyen 2011 – ein Krieg, den London und Paris unter Täuschung Russlands und Chinas im UN-Sicherheitsrat anzettelten. Seine Folgen bedrohen ganz Westafrika.

»Zeitenwende« ist jedenfalls nicht die Formel der Staatschefs des Senegal und Südafrikas, die Scholz am Sonntag und Dienstag besuchte. In Dakar kündigte Präsident Macky Sall, gegenwärtig Vorsitzender der Afrikanischen Union, an, er werde demnächst nach Moskau und Kiew reisen. Und aus Südafrika berichtete die Frankfurter Rundschau am Mittwoch: »Scharfer Ton in Pretoria«. Denn auch Präsident Cyril Ramaphosa nahm sich heraus, die Welt anders zu sehen als der Deutsche. Er meinte, der Kanzler habe Verständnis für Staaten gezeigt, die sich bei der Verurteilung Russlands in der UN-Vollversammlung enthalten oder dagegen gestimmt hätten. Der fauchte darauf hin in Richtung seines Gastgebers, Moskau führe einen Angriffskrieg: »Das muss jedem klar sein.«

Wie erholsam war es da am Montag beim Truppenbesuch in Niger – laut UN ärmstes Land der Welt, aber mit viel Uran, das regelbasiert nach Frankreich geht. Das Handelsblatt nannte am Mittwoch in einer Aufstellung der am meisten unter Hunger leidenden Länder, nach den von NATO und EU zerstörten Afghanistan und Somalia (jeweils 92 Prozent der Bevölkerung) an dritter Stelle Niger (67 Prozent). Staatschef Mohammed Bazoum erwies sich in Sachen Isolierung Russlands als pflegeleicht, Scholz gratulierte der Bundeswehr zum »Erfolg« im Wüstenstaat. FAZ und Süddeutsche Zeitung brachten Fotos von Soldaten mit Kanzler jeweils auf Seite eins. Es waren die einzigen, die sie von der Afrikareise veröffentlichten.

https://www.jungewelt.de/artikel/427355.erholung-beim-truppenbesuch.html
28.05.22

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