12.08.2022

 

Erinnerungen an den 13. August 1961

Das Jahr 1961 stand infolge der bestehenden Konfrontationen der alliierten Westmächte im „Kalten Krieg“ gegen die Sowjet-Union und ihre Verbündeten, unter keinem guten Vorzeichen, wobei die „Berlinkrise“ die komprimierte Wiederspieglung dieses Geschehens war. Dabei waren wir, als Angehörige der bewaffneten Streitkräfte der DDR, immer in diesen Prozess integriert.

 In den Monaten Juli und August 1961 waren wir, die 3. U-Jagdgruppe der 7. U-Jagdabteilung damit beschäftigt, die gestellten Aufgaben der Kampfreserveausbildung im Hafen und in See durchzuführen und sie dann im September in einer Flottillenübung abzulegen und in den Kampfkern übernommen zu werden (Höhepunkte waren dabei eine Reedeübung in Gdynia und die Flottenübung der Volksmarine). Wir waren stolz auf die in Gdynia gezeigten Leistungen und kehrten am 8.August 1961 zur Wiederherstellung der Einsatzbereitschaft in die Prorer Wieck zurück, wo anschließend noch einige Elemente mit den Kampfkerneinheiten geübt werden sollten.  Das Training wird jedoch am 12 08 1961, einem Samstag, überraschend abgebrochen und das Einlaufen in den Häfen Peenemünde   befohlen. Die Beendigung der Übung war schon etwas seltsam, denn gewöhnlich war Freitag der Einlauf- und Ausrüstungstag. Noch vermutete keiner von uns etwas Besonderes hinter dieser Terminierung. Nach dem Anlegen und der obligatorischen Meldung beim Abteilungschef, gab es die   nächste Überraschung. Bei ihm befindet sich eine Einsatzgruppe des Rückwärtigen Dienstes der Flottille, die sofort alle technischen Störungen auf den Schiffen aufnimmt und Reparaturanweisungen an die Werkstätten gibt. Diese Neuerung machte uns stutzig. Denn gewöhnlich mussten die Schiffe ihre Störungen beim Diensthabenden des Rückwärtigen Dienstes abgegeben, um anschließend bearbeitet zu werden. Heute war es anders – eine neue Qualität in der Organisation der Arbeit der Rückwärtigen Dienste? Daran glaubte ich nicht?  Die nächste Information durch den Stabschef, dass ab sofort alle Urlaube gesperrt seien und der Landgang nur m Standort Peenemünde-Karlshagen erlaubt sei, deutete auf eine Erhöhung der Gefechtsbereitschaftsstufe hin. Mitten in der Nacht höre ich das Signal, das jeden Seemann in Alarmbereitschaft versetzt – Gefechtsalarm. In Windeseile war ich angekleidet, raste auf die Brücke und ließ die Routine für die Handlungen zur Auslösung des Gefechtsalarms - die Herstellung der Abwehrbereitschaft und das beschleunigte See- und Gefechtsklarmachen herstellen.  Nach einem Übungsalarm sah diese Angelegenheit nicht aus, denn hierfür fehlten die Kontrolleure der Stäbe. In dieser Nacht sah ich nur die agierenden Besatzungen und die Kommandanten, die dieses Geschehen leiteten.

Anlass für diesen Alarm war die Auslösung der „Erhöhten Gefechtsbereitschaft“ für alle Einheiten der Volksmarine um 00:00 Uhr am 13.08 1961 durch den Minister für Nationale Verteidigung. Nach den Vorgaben dieses Dokuments, hatten die Flottillen und ihre Rückwärtigen Dienste in ihre Gefechtsstände und Ausweichräume zu verlegen und alle Schiffseinheiten die Bereitschaftsräume in See einzunehmen. Nach der Herstellung der Auslaufbereitschaft, begab sich der Gruppenchef zum Abteilungsstab, um ihm die Auslaufbereitschaft zu melden und weitere Instruktionen zu erhalten. Im Abteilungsstab wurde ihm befohlen, mit der Gruppe sofort den Bereitschafsraum in der Prorer Wieck einzunehmen und dort zur Verstärkung des Beobachtungsystems der täglichen Organisation und zur Durchführung der Seeaufklärung bereit zu sein. Weitere Instruktionen würden folgen.

Nach der Herstellung der Gefechtsbereitschaft, versammelte der Stellvertreter des Gruppenchefs für Politische Arbeit die Funktionäre der Schiffe und informierte sie über die Maßnahmen zur Grenzsicherung gegen Westberlin und erläuterte ihnen warum diese Aktivitäten notwendig waren.

Während der Alarmierung und unmittelbar nach dem Auslaufen, hatte kaum einer von uns ein Ohr für diese Information, da alle mit ihren Dienstpflichten beschäftigt bzw. sich auf das nicht gerade einfache Fahrwasser konzentrierten. Erst bei Tonne Osttief, wo das gefährliche Fahrwasser endete, kehrten die Gedanken zu dem vor einer Stunde Gehörtem bei mir plötzlich zurück. Würden die westlichen Alliierten und die BRD bei diesen Absperrmaßnahmen Westberlins stillhalten und es geschehen lassen oder wird es zu einer gewaltsamen Konfrontation kommen? Zum ersten Mal in meinem Leben dachte ich daran, dass es jetzt dazu kommen kann, dass du dem eigentlichen Zweck deiner Ausbildung, einer bewaffneten Auseinandersetzung ins Auge blickst. Plötzlich hörten die bisherige Leichtigkeit und die Freude an der Ausbildung auf und wich einer nie erlebten Stimmung von Ernsthaftigkeit und Entschlossenheit auch diese Aufgabe zu meistern. Dazu war es notwendig, die Besatzung für diese Aufgabe vorzubereiten und ihr die Besonderheit der Situation klarzumachen. Denn hier ging es nicht um eine Übungsaufgabe, sondern um eine Gefechtsaufgabe mit einer zu diesem Zeitpunkt noch unklaren Ausgangslage. Folglich war es für mich wichtig, mit vielen Besatzungsangehörigen zu sprechen, um ihre Stimmung zu erfahren, um auf alle möglichen Eventualitäten vorbereitet zu sein. Nach dem Rundgang auf den Gefechtsstationen und den dabei geführten Gesprächen, war ich innerlich ruhiger geworden.  Die Haltung der Besatzung zeigte mir, dass sie bereit war, diese Aufgabe mit einer hohen persönlichen Einsatzbereitschaft zu erfüllen.

Im befohlenen Bereitschaftsraum angekommen, wurde in Luftabwehrformation geankert und entgegen bisherigen Gepflogenheiten die Bereitschaftsstufe II befohlen. Dass bedeutete, die Gefechtsstationen blieben mit 50% des Personals besetzt. Im Beobachtungsbereich der Schiffe passierte in den folgenden Stunden nichts Ungewöhnliches. Die Frachter auf dem Küstenzwangsweg zogen gelassen ihre Bahnen, die Fischkutter liefen, wie auch an anderen Tagen, in den Hafen von Saßnitz ein uns aus. An den Badestränden der Prorer Wieck war ein reges Badeleben zu beobachten. Insgesamt gesehen ein friedlicher Augustsonntag, wenn nicht die Ungewissheit der mitternächtlichen Alarmauslösung wäre. Bis weitere Befehle eintrafen, hieß es folglich Ruhe bewahren, Nachrichten hören und warten.  Für den Nachmittag war ein Kurier des Grenzabschnittskommandeurs angekündigt, der dem Gruppenchef (GCH) die präzisierte Lage und die Aufgabenstellung übergeben sollte. Dieser, ein Offizier unseres Abteilungsstabes, traf auf einem Räumboot ein und übergab die angekündigten Dokumente. Sie enthielten eine allgemeine Information zur Lage, zu entfalteten Kräften, den Verantwortungsbereichen, der Vorpostenlinie der Gruppe, zu den erforderlichen Führungs- und Nachrichtenverbindungen sowie der Organisation der Versorgung. Zum Abschluss kam noch der Hinweis von ihm, dass im Rahmen der Gesamtbeobachtung, auch die Beobachtung der eignen Küste einzuschließen sei. Der GCH machte sich an das Klarmachen der Aufgabe, an der ich als sein Stellvertreter teilnahm

In der gestellten Aufgabe war

„die Verstärkung des Beobachtungssystems in der Täglichen Organisation eines Schiffsvorpostensystens im Raum Saßnitz – Greifswalder Oie westlich des Küstenzwangsweges“  

Das bedeutete, uns ab diesem Zeitpunkt verstärkt auf die landseitige Beobachtung der Küste der Prorer Wieck zu konzentrieren. Die Berechnungen für die Durchführung der Aufgabe waren schnell erledigt, so dass die Kommandanten eingewiesen waren und die Erfüllung der Aufgabe begonnen werden konnte. In den Abendstunden des 13. August begann der Vorpostendienst der Gruppe. Für die gestellte Aufgabe genügte eine Vorpostenlinie, die mit einer Geschwindigkeit von 9 Knoten befahren wurde. Nach 50 Minuten war der Endpunkt der Vorpostenlinie erreicht, danach Drehung auf Gegenkurs bis zum Anfangspunkt der Linie. In der Anfangsperiode des Vorposteneinsatzes war die Aufmerksamkeit der Besatzungen durch die neue Aufgabe, sowie die politische Motivierung sehr hoch und es bedurfte nur einer geringen Einflussnahme auf die Beobachtungstätigkeit. Im Verlauf der nächsten Tage und Wochen änderte sich dieser Zustand infolge der Eintönigkeit des Geschehens. Nichts Aufregendes passierte. Weder die in der Arkonasee operierenden Seestreitkräfte der BRD, die ihre Übung „Wallenstein“ für eine aggressive „Vorneverteidigung“ absolvierten, näherten sich der Vorpostenlinie, noch die Urlauber an den Küsten Rügens oder deren Bewohner zeigten irgendwelche Absichten, die Ostsee als Fluchtweg zu benutzen. Es bedurfte dann durchaus gezielter Einflussmaßnahmen der Vorgesetzten, um eine den Anforderungen entsprechende Aufmerksamkeit des Beobachtungsdienstes zu gewährleisten. Im Verlaufe des mehrwöchigen Vorposteneinsatzes zeigten sich weitere negative Auswirkungen auf diesem, die vor allem auf eine nicht genügende Versorgung mit Waren des täglichen Bedarfs und Tabakwaren zurück zu führen waren. Die Versorgung brachte zwar den notwendigen Treibstoff, Wasser, die erforderliche Verpflegung und notwendige Ersatzteile zu den Einheiten, aber bei den Besatzungen gingen spätestens nach einer Woche bestimmte Artikel der persönlichen Hygiene und was noch schlimmer war, bei den Rauchern gingen die Tabakwaren zu Ende. An ihre Ergänzung hatte in den Stäben keiner gedacht. Missmut und Ärger über das Fehlen dieser Artikel waren natürlich groß und kamen im Stimmungsbild Besatzungen auch deutlich zum Ausdruck. Diese wurden durch den Stellvertreter für Politische Arbeit, an den auf dem Versorger anwesenden Verbindungsoffizier sofort weitergeleitet. Damit hatten die Besatzungen jedoch noch immer keine Rauchwaren und hygienischen Artikel. Nach Rücksprache mit dem Kapitän des Versorgers, den ich persönlich kannte, konnte erreicht werden, dass er uns einen Teil seiner Kantinenwaren verkaufte, die wir mit den anderen Besatzungen brüderlich teilten. Auf unserem Schiff kam noch ein glücklicher Umstand für die Raucher hinzu, dass der Bootsmann ein Säckchen mit portionierten Tabakkartons der ehemaligen sowjetischen Besatzung in seiner Last entdeckte und diesen „Machorka“ zusätzlich verteilte.  Auch wurde die von den Besatzungen geübte Kritik als berechtigt vom vorgesetzten Stab anerkannt und uns   umgehend mitgeteilt, dass dieser Mangel bei der nächsten Versorgung beseitigt wird. Der GCH wurde angewiesen, dass er in solchen Notfällen berechtigt sei, in Saßnitz Einkäufe durch Einsatz eines Schiffes durchzuführen. Wie dieses Beispiel zeigte, mussten durch die veränderten Einsatzbedingungen (ununterbrochener längerer Seeaufenthalt – bis zu 39 Tagen), auch Änderungen in der Planung und Gestaltung des Borddienstes Eingang finden, um die Arbeits- und Lebensbedingungen den neuen Anforderungen anzupassen.

Ein weiteres Problem war die Auslieferung der ankommenden Post. Sie wurde mit dem Versorger mitgebracht und konnte deshalb die Adressaten manchmal nur mit einer erheblichen Verspätung erreichen. An den Posttagen galt es immer ein offenes Ohr zu haben, was den Einzelnen bewegte, mit ihm zu sprechen und nach Möglichkeit zu helfen. Es war manchmal nicht leicht, Besatzungsmitglieder nach negativen Nachrichten aus ihrem seelischen Tief herauszuholen und sie wieder für ihre dienstliche Tätigkeit zu motivieren, vor allem wenn sich Freundschaftsverhältnisse lösten.

Dieser Einsatz war auch für mich Neuland, denn unter solchen Bedingungen hatte ich bisher noch keine Aufgabe zu erfüllen. Waren die bisherigen Ausbildungsaufgaben dadurch charakterisiert, dass sie in einer begrenzten Zeit im Hafen oder in See geübt und dann abgelegt werden mussten, ging es bei dieser neuen Aufgabe darum, bereits abgelegte Ausbildungselemente in einer operativen, zeitlich nicht begrenzten Zeit in See zu erfüllen. Der langandauernde Seeaufenthalt und die gleichförmige Durchführung der Aufgabe, führten zu Monotonie und zur Einengung der bisher gewohnten Lebensbedingungen. Da diese Lage das bisher gewohnte Bordleben veränderte, konnte es die Stimmung im Besatzungskollektiv durchaus beeinträchtigen. Es musste folglich etwas unternommen werden, um diesen Druck zu mindern. Deshalb kam ich nach Rücksprache mit dem GCH zu dem Entschluss, dass wir prophylaktische Maßnahmen einleiten müssten, die einem Aufkommen negativer Stimmungen entgegenwirken sollten. Dabei ging es nicht um die politisch-ideologische Motivierung, die war nach wie vorhanden, sondern vielmehr durch Veränderungen in der Dienstorganisation, eine verbesserte Versorgung und eine sinnvolle Gestaltung der Freizeit, positive Veränderungen zu erreichen.  So wurden beispielsweise durch Änderung der Dienstorganisation, eine teilweise Ausgabe von Brötchen zum Frühstück statt Schwarzbrot möglich, durch die Schaffung einer Sparschaltung durch das Maschinenpersonal eine wöchentliche Ganzkörperreinigung mit warmem Wasser gewährleistet, die Einführung von Zeiten für persönlichen Zeugdienst (Waschen und Reparatur persönlicher Bekleidung), aber auch einer Zeit für die persönliche Entspannung u.a. Möglichkeiten zu schaffen, die das  Leben an Bord unter diesen Gefechtsbedingungen leichter machten. Selbstverständlich gab es beim Dienst   auf der Vorpostenlinie und als Bereitschaftsschiff auf Reede keine Abstriche an den dienstlichen Anforderungen. Gleiches galt für die Pflege und Wartung der Bewaffnung, der Maschinenanlage und der Beobachtungstechnik.

Die hohe Einsatzbereitschaft der Besatzung gewährleistete, dass unser Schiff vom ersten Tag der Alarmierung, bis zum letzten Tag – der Aufhebung der Gefechtsbereitschaftsstufe am 29.September 1961, ohne Ausfälle und ohne Vorkommnisse seinen verantwortungsvollen Dienst zum Schutz der Seegrenzen der DDR erfüllen konnte.

Ich habe in dem Beitrag ausschließlich meiner persönlichen Erinnerungen an diese Zeit formuliert, weil es für mich als jungen Offizier und Kommandant eines Kampfschiffes der Volksmarine eine Zeit war, in der meine bisher erworbenen militärischen und seemännischen Kenntnisse und Erfahrungen, aber ebenso meine politische Haltung und Überzeugung, auf dem Prüfstand standen. Mich erfüllt auch heute noch berechtigter Stolz, dass ich diese Aufgabe erfolgreich erfüllt habe. Ebenso ungebrochenen Stolz empfinde ich, wenn ich mich an das beispielhafte seemännische Verhalten der Männer meiner Mannschaft, die Festigkeit ihrer politischen Haltung und Pflichterfüllung gegenüber ihrer Volksmarine und damit ihrer Heimat, der Deutschen Demokratischen Republik, erinnere.

Kapitän zur See a.D. 
Dr. Ferdinand Schmeichel    (verstorben am 28. September 2021)
Mitglied der Regionalgruppe Rostock

 

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