24.01.2023

Wer zuerst schießt, verliert

 

Objektive Debatten über den Konflikt in der Ukraine sind derzeit kaum möglich – Die leitmediale Einseitigkeit kennt der Beobachter aus Corona-Zeiten und vom Krieg der NATO gegen Jugoslawien 1999.

 

Es ist so eine Sache mit Familienfesten. Vielleicht kennen Sie das auch? Man sitzt im Kreise seiner lieben Verwandten, isst, trinkt, redet. Irgendwann kommt die Sprache auf ein unangenehmes Thema, das man besser nicht besprochen hätte. Ein kontroverses Thema. Politik zum Beispiel. Ein Wort gibt das andere. Und bald ist vom Familienfrieden nicht mehr allzu viel übrig. Das kann, wie kürzlich, an Weihnachten geschehen oder an Silvester. Es kann aber auch auf jeder beliebigen Geburtstagsfeier passieren. Oder im Sommer beim gemütlichen Grillabend. Der Krieg in der Ukraine ist so ein Thema, das die Gemüter in Wallung bringt und geeignet ist, höchst kontrovers diskutiert zu werden.

Der Wunsch nach Frieden

Solch familiäre Diskussionen können ganz harmlos beginnen. Für Gespräche im Freundeskreis gilt freilich dasselbe. Man wünscht sich baldigen Frieden für die kriegsgeplagte Ukraine. Dass das Kämpfen und Sterben auf dem Schlachtfeld bald enden möge. Dass die Angriffe, die immer wieder auch zivile Ziele treffen, eingestellt werden. Soweit so verständlich. Erst recht angesichts solcher Bilder wie jüngst aus Dnipro (Dnjepropetrowsk), wo ukrainischen Angaben zufolge bei einem russischen Luftschlag mindestens 40 Zivilisten getötet wurden. Sei es, weil der russische Marschflugkörper von der Flugabwehr getroffen und abgelenkt wurde. Sei es, weil die Ch-22 ein Ziel traf, auf das sie nicht programmiert war.

Bei Friedensappellen bleibt es im familiären Diskurs nicht. Schnell tritt die Schuldfrage in den Vordergrund. Für den gemeinen deutschen Medien-Konsumenten endet hier die Diskussion und beginnen die Fakten. Schuld ist der Russe! Und nur der Russe! Der „Teufel“ Wladimir Putin, der brutale „Diktator im Kreml“, habe die friedliebende Ukraine überfallen und ihr einen Vernichtungskrieg aufgezwungen. So oder so ähnlich hört, sieht und liest der durchschnittliche Deutsche es seit Monaten in den öffentlich-rechtlichen Medien und der Tageszeitung. Wer diesen leitmedialen Konsens in Frage stellt, ist ein böser „Putin-Versteher“, „Russland-Freund“ oder „Kreml-Propagandist“. Oder schlimmeres. Und damit praktisch ein Hochverräter an der westlichen Demokratie und ihrer gerechten Sache.

Moralischer Verlierer

Wer zuerst schießt, verliert. Getreu diesem Motto sehen die deutschen Leitmedien den Konflikt in der Ukraine offenbar. Denn dass Russlands Truppen in das Nachbarland einmarschierten, ohne dass es zuvor ukrainische Angriffe auf Russland gegeben hatte – das dürfte kaum jemand bestreiten. Vor dem 24. Februar beschränkte sich der Krieg in der Ukraine auf den Donbass. Eine großflächige Eskalation brachte erst die russische Februar-Invasion, die mit Luftschlägen und Zerstörungen in weiten Teilen des Landes einher ging. Auf dem Papier mag die Feststellung also zutreffen, dass Russland den Krieg begonnen hat. Es hat zuerst geschossen – und steht damit als moralischer Verlierer da.

Tatsächlich stellt der Einmarsch am 24. Februar eine Zäsur dar. Zumindest in der Wahrnehmung weiter Teile der deutschen Öffentlichkeit. Vom ersten Krieg in Europa seit 1945 war in den Medien die Rede. Dass das historischer Unsinn ist, dürfte vielen gar nicht bewusst sein. Obwohl selbst die Jüngeren sich eigentlich problemlos daran erinnern müssten. In den 1990er Jahren kam der Balkan nicht zur Ruhe. Mit dem Zerfall des sozialistischen Vielvölkerstaats Jugoslawien entluden sich die Spannungen in einem jahrelangen brutalen Krieg. Im Kern mag er ein Bürgerkrieg zwischen den Volksgruppen gewesen sein. Durch die westliche Anerkennung der Balkan-Staaten als unabhängig änderte sich die Situation aber schnell.

Unstrittig ein „richtiger Krieg“ war das, was am Abend des 24. März 1999 mit massiven Luftangriffen der NATO auf Belgrad und andere jugoslawische Orte begann. Mit dem hierzulande meist Kosovokrieg genannten Waffengang ergriff das Militärbündnis endgültig Partei für die kosovarische Untergrundarmee UÇK, deren Kämpfer der jugoslawischen Regierung um Slobodan Milošević als Terroristen galten. Die Angriffe dauerten bis in den Juni hinein und trafen immer wieder auch die Zivilbevölkerung. „Kollateralschäden“ nannte das NATO-Pressesprecher Jamie Shea. Die weithin als zynisch wahrgenommene Bezeichnung, die zuvor im Deutschen kaum geläufig war, wurde prompt zum Unwort des Jahres 1999 gekürt. Für Deutschland, das sich unter rot-grüner Führung an den Luftschlägen beteiligte, war der Krieg gegen Serbien und Montenegro der erste Kampfeinsatz seit Ende des Zweiten Weltkriegs.

Vorwurf des Völkermords

Dass der Krieg völkerrechtlich auf äußerst wackeligen Füßen stand, spielte in der Berichterstattung nahezu keine Rolle. Auch die zahlreichen Angriffe auf die zivile Infrastruktur, auf Brücken und Elektrizitätswerke, wurden kaum kritisch hinterfragt, solange der Einsatz lief. Hinterher konnte freilich wieder ausgiebig berichtet und diskutiert werden, ob die Begründung für die Luftschläge womöglich eine Lüge war. Zumindest mehrten sich die Zweifel an serbischen Massakern und dem sogenannten „Hufeisenplan“, der der NATO und vor allem deutschen Politikern dazu diente, die jugoslawische Regierung um Slobodan Milošević eines vorgeblich geplanten Völkermords an den Kosovo-Albanern zu bezichtigen.

Das damalige Vorgehen der Medien wiederholte sich – für unvoreingenommene Betrachter noch deutlicher erkennbar – im Zusammenhang mit Corona. Erst seit die Pandemie faktisch beendet und in die endemische Phase eingetreten ist, häufen sich auch in den Leitmedien Berichte über die teils erschreckenden Nebenwirkungen oder die mangelnde Wirksamkeit der Corona-Impfung. Oder über die schädlichen Folgen der Corona-Maßnahmen etwa auf Psyche und Gesundheit von Kindern. Zuvor galten die verordneten Einschränkungen noch als unbedingt nötig, um ein Massensterben nicht nur der „vulnerablen Gruppen“ zu verhindern. Und die Impfung galt (und gilt großteils bis heute) als Allheilmittel gegen das Virus. Wer dagegen seine Stimme erhob, wurde schnell zum „Querdenker“ oder gar zum „Nazi“. Kurz: zum Außenseiter. Auch innerhalb der Familie.

Die Spaltung vertieft sich

Nun also der Krieg in der Ukraine. Wieder ist die Leit-Meinung der großen Medien nahezu flächendeckend die der Regierung. Wieder überbieten sich Politiker in immer neuen Forderungen und Anschuldigungen an die Adresse der Andersdenkenden. Und wieder vertieft sich die Spaltung der Gesellschaft, stehen abweichende Stimmen am Pranger. In der Öffentlichkeit und im Kreis der Familie. Wieder drohen Freundschaften zu zerbrechen. Und mancher, der in Bezug auf den Krieg vermeintliche Gewissheiten des Westens in Frage stellt, ist besser still. Selbst wenn er vielleicht sogar Verbindungen in die Ukraine oder den Donbass hat und die dortige Situation einigermaßen unzensiert mitbekommt.

Wer sein Augenmerk allein auf den 24. Februar und die Monate danach richtet, muss zum Schluss kommen, dass die alleinige Schuld an Krieg und Eskalation bei Russland liegt. Bei Wladimir Putin. Die Vorgeschichte der Invasion spielt dann dieselbe Rolle, die sie auch in den meisten deutschen Medien spielt: keine. Dann verwundert es auch nicht, dass jeder, der Russlands Kriegsschuld relativiert, als böser Propagandist des Kreml gilt. Wetten, dass objektive Formen der Berichterstattung und freiere Diskussionen wieder zunehmen, sobald der Krieg beendet ist? Dann dürfte auch das Sterben im Donbass seit 2014 wieder vermehrt zur Sprache kommen. Und der Druck, den die NATO über Jahre gegen Russland aufbaute.

Thomas Wolf

 

Link zum Originalartikel: 
http://der-andere-blickwinkel.de/2023/01/18/wer-zuerst-schiesst-verliert/

 

Unsere Webseite verwendet für die optimale Funktion Cookies. Durch die weitere Nutzung der Webseite stimmen Sie der Verwendung von Cookies zu. Weitere Informationen zu Cookies erhalten Sie in unserer Datenschutzerklärung.