03.02.2023

Liebe Genossen und Freunde,

ein wirklich sehr lesenswertes Interview unseres Freundes Bruno Mahlow.

Siegfried Eichner

 

 

Interview von Arnold Schölzel mit Bruno Mahlow

 

Bruno Mahlow wurde 1937 als Emigrantenkind in Moskau geboren. 1947 zog seine Familie zurück nach Berlin. Er studierte am Institut für Internationale Beziehungen in Moskau und war im diplomatischen Dienst der DDR. Von 1973 bis November 1989 war er Vizechef der Abteilung Internationale Beziehungen des ZK der SED, danach kurzzeitig deren Leiter. Ab 1990 beriet er die Internationale Kommission beim Parteivorstand der PDS und war Mitglied des Ältestenrats. Im November vergangenen Jahres wurde er Mitglied der DKP. 

 

Aufbruch in gesellschaftliches Neuland

Welche Lehren können Kommunistinnen und Kommunisten aus ihrer Geschichte ziehen?

Erstveröffentlichung am 13.01.2023 in der UZ

 

UZ: Die Sowjetunion hat in den 1930er Jahren deine Familie aufgenommen, als diese vor dem Faschismus fliehen musste. Wir haben am 30. Dezember den 100. Gründungstag der Sowjetunion begangen. Was bedeutet dieser Tag aus deiner Sicht?

Bruno Mahlow: Das war der 100. Jahrestag eines Staates, der sich erstmals in der Menschheitsgeschichte zur Aufgabe machte, die Macht wirklich zum Nutzen der Mehrheit – also der arbeitenden Menschen – auszuüben. Für diese besondere, neue Staatsmacht war die Rolle der Sowjets bestimmend. Sie spielten in der Revolution und in der Geschichte der Sowjetunion mal eine größere, mal eine geringere Rolle. So musste Lenin die Taktik und die Losung „Alle Macht den Sowjets!“ anpassen, als die Sozialrevolutionäre 1917 zeitweilig die Führung hatten.
Bei den Wahlen zu den Sowjets wurde immer ein Block der Kommunisten und Parteilosen aufgestellt und gewählt. Spricht man aber von Sowjetmacht, dann ist die sozialistische Orientierung gemeint – und diese lag nun mal völlig in der Verantwortung der Partei. Das war entscheidend. Die „Sponsoren der Konterrevolution“ strichen daher bereits am 14. März 1990 als Erstes alle Passagen aus der sowjetischen Verfassung, die sich auf die Rolle der KPdSU bezogen. Damit lag die Macht verfassungsrechtlich auf der Straße.

UZ: Du wurdest 1937 in Moskau geboren und hast als Kind den Überfall auf deine Heimat, die Sowjetunion, und den Kampf ihrer Völker gegen den Faschismus erlebt. Wie hat dich das geprägt?

Bruno Mahlow: Ich wuchs nicht nur als sowjetisches Kind, sondern als Kind des Großen Vaterländischen Krieges auf. Deshalb gilt für mich als deutschen Linken – ein Begriff, den ich wegen seiner Unschärfe ungern, hier aber bewusst verwende – an diesem 100. Jahrestag: Der Sieg der Sowjetunion über den Faschismus darf nie vergessen werden. Und sofort muss die Frage beantwortet werden: Wie war dieser Sieg möglich? Die Antwort lautet: Weil es historische Leistungen und Initiativen gab, die hoch zu würdigen sind. Wie der Sieg der Oktoberrevolution, der den Grundstein legte.
Nicht von ungefähr waren es ausgerechnet deutsche Linke wie Karl Kautsky, die 1917 von oben herab urteilten: Wie können die Russen nur in diesem rückständigen Land eine Revolution beginnen? Das war ein Problem, das auch Rosa Luxemburg beschäftigte. Die Gegner des Sozialismus, die sich deswegen auf sie berufen, vergessen dabei, dass sie sah, was in der Realität geschah, als sie die Auflösung der Provisorischen Versammlung kritisierte und fragte: Was sollten die Bolschewiki denn anderes machen? Der deutsche Diktatfrieden von Brest-Litowsk vom März 1918 war etwas Schlimmes, nur: Er hatte sich in wenigen Wochen weitgehend erledigt – dann gab es die Rote Armee. Selbst 86.000 Generäle und Offiziere der zaristischen Armee beteiligten sich. Einige von ihnen, wie Boris Schaposchnikow, Alexander Wassilewski oder Leonid Goworow wurden Marschälle der Sowjetunion und Kommandeure im Großen Vaterländischen Krieg. Die Aufstellung der Roten Armee beantwortete damals allen die Frage, warum die sozialistische Revolution in Russland siegen konnte.

Aber es gehören noch zwei weitere historische Leistungen hinzu, wenn man erklären will, wie dieses Land den Faschismus besiegen konnte:

Erstens der GOELRO-Plan von 1920. Dieser „Staatsplan zur Elektrifizierung Russlands“ war ein Eckstein der Industrialisierung in einem rückständigen, von Krieg und Bürgerkrieg gelähmten Land. Der Plan sah den Bau von 30 Kraftwerken innerhalb von 10 bis 15 Jahren vor und wurde Anfang der 1930er Jahre erfüllt.

Zweitens die Entwicklung der „Neuen Ökonomischen Politik“ (NÖP) 1921. Strategisch ein Rückzug vom Kriegskommunismus hin zur Wiederzulassung kapitalistischer Elemente – Lenin setzte die NÖP gegen große Widerstände in der Partei durch. Das Problem, das die NÖP aufwirft, beschäftigt uns bis heute – siehe China, Vietnam oder Kuba. Es hatte etwas mit Genialität zu tun, 1921 diesen Weg einzuschlagen: Es ging darum, nicht zu schwafeln oder zu meinen, Revolutionen werden am grünen Tisch entschieden, sondern energisch zuzupacken – mithilfe kapitalistischer Elemente. Lenin unterstrich damals: Der Kapitalismus ist die fortschrittlichste Ausbeuterformation und die unmittelbare Vorstufe des Sozialismus. Von ihm müsse gelernt werden. Überliefert ist die Geschichte, dass einst Arbeiter zu ihm kamen, die ihren Betrieb übernehmen wollten. Lenin fragte sie, ob sie sich im Handel, im Geschäftsleben oder mit der Buchhaltung auskennen. Als sie verneinten, sagte er ihnen: „Seht ihr, ihr benötigt Spezialisten.“ Wie das ganze Land.

In jener Zeit gab es Repressalien, sie waren die Reaktion auf den Terror, der gegen die Sowjetmacht verübt wurde – genauer: international entfesselt wurde. Es war nicht einfach ein Bürgerkrieg der Weißen gegen die Roten. Man kann das sehr gut bei Michail Scholochow im „Stillen Don“ und bei Alexej Tolstoi im „Leidensweg“ nachlesen. Außerdem muss man wissen: Die Intervention der 14 Staaten gegen Sowjetrussland, die offiziell 1921 endete, wirkte fort. Es gab noch jahrelange Kämpfe mit bewaffneten Gruppierungen, die vom Ausland unterstützt wurden. In dieser Zeit die NÖP zu proklamieren – das war aus der Rückschau ein unglaublicher Schachzug.

UZ: Die Frage der Nationalitäten hat in Lenins Überlegungen zur Gründung der Sowjetunion eine zentrale Rolle gespielt – du hast zu diesem Thema viel gearbeitet. Wie schätzt du die Bedeutung dieser Frage ein?

Bruno Mahlow: Die Nationalitätenfrage stellte sich mit der Oktoberrevolution völlig neu und einmalig in der Weltgeschichte. Entscheidend war da die Orientierung auf einen Unionsstaat, die Sowjetunion. Ziemlich früh nach der Revolution vereinten sich vier Sowjetrepubliken – die russische, ukrainische, belarussische und später die transkaukasische. Bereits 1918 existierten außerdem zehn autonome Republiken. Es gab also ein breites Lernfeld, um zu studieren, wie die nationale Frage gelöst werden könnte. Für die Bolschewiki ging es unter der Führung Lenins um die Ausarbeitung einer Politik, die flexibel war und zugleich prinzipiell auf der jeweiligen Souveränität der Republiken aufbaute. Darüber, wie weit Souveränität und Vereinigung zu gehen hatten, gab es Auseinandersetzungen. Die Differenzen zwischen Stalin und Lenin in der nationalen Frage, dem Verhältnis zwischen Zentrale und Regionen wurden nachträglich aufgebauscht, obwohl Stalin von seinem Konzept der kulturellen Autonomie abging und sich für das Konzept Lenins entschied.

UZ: Wladimir Putin hat wiederholt Lenin für das Scheitern der Sowjetunion verantwortlich gemacht, ja für das Ende der russischen „Welt“.

Bruno Mahlow: Putin als nicht zu Ende studierter Hörer verschiedener Marxismuslektionen behauptet, Lenin habe vor allem mit seinem Nationalitätenkonzept eine Mine unter Russland gelegt. Lenin konnte aber nicht anders als die Dialektik von starker Zentrale bei gleichzeitiger Berücksichtigung bestimmter Rechte der Republiken zu betonen. Dass es später in der Nationalitätenpolitik zu Fehlern kam, ist bereits untersucht worden. Sie lassen sich in den Prozess der Entartung von Partei und Gesellschaft einordnen, in den die Sowjetunion geriet. Aber sie ändern nichts – so schmerzhaft sie waren – an der enormen Leistung, diesen Staat zu gründen.

Erinnert sei an die Schaffung von tausenden Industriebetrieben, an die gewaltige Leistung, die Industrie zu Beginn des Großen Vaterländischen Krieges zu verlagern. Selbst westliche Historiker erkennen an: Die Industrialisierung modernisierte das Land. Auch wenn nicht vergessen werden darf, dass dies unter den konkreten Bedingungen viele Opfer gekostet hat. Für den Bau der großen Werke wurden nicht nur Repressierte eingesetzt. Selbst Kriminelle wurden herangezogen, damit sie wiedergutmachten, was sie zerstört hatten.

Die Unionsidee ist etwas Tolles. Der Sowjetstaat verdient es, als eine heroische Leistung dargestellt zu werden. Ich komme dabei immer wieder auf Scholochow zurück, nicht nur auf den „Stillen Don“, sondern auf „Neuland unterm Pflug“. Ich spreche im Hinblick auf die Sowjetunion immer über den „Aufbruch in gesellschaftliches Neuland“ und habe schon zu vielen Genossen gesagt: Nehmt das Buch noch einmal zur Hand, lest es mit dem Wissen von heute. Vielleicht versteht ihr Buch und Geschichte heute besser. Der Roman spielt in der Zeit um 1930, als die Kollektivierung der Landwirtschaft vorangetrieben wurde. Und es geht in ihm auch um Weltrevolution und die Einstellung zu den Menschen. Eine der beiden Hauptfiguren, Makar Nagulnow, ist ein Hitzkopf, der für die Weltrevolution hier und jetzt arbeiten will. Er wird deswegen fast aus der Partei ausgeschlossen, weil die Weltrevolution – außer bei Trotzki – nicht auf der Tagesordnung stand. Aber das Problem, das Nagulnow verkörpert – das Ende der NÖP –, hatte gegen Ende der 1920er Jahre ein wichtiger Parteitag der KPdSU behandelt, der sich mit den Auffassungen Trotzkis, Nikolai Bucharins und Grigori Sokolnikows auseinandersetzte. Trotzki war der Meinung: Über Sozialismus reden wir dann, wenn es so weit ist, jetzt geht es um die Weltrevolution. Es ist heute noch schwer, einem jungen Heißsporn, der alles lieber heute als morgen auf den Kopf stellen möchte, begreiflich zu machen, dass solche revoluzzerhaften Ideen das Überleben eines Staates wie der UdSSR unmöglich machen. Der weltrevolutionäre Prozess hätte das Mutterland des Fortschritts verloren.

Diese Feststellung ignoriert nicht die Opfer: Die Repressalien wurden von Partei und Justiz verurteilt. Doch diese Dinge immer wieder nur demonstrativ in den Vordergrund zu stellen, dazu auch noch mit falschen Opferzahlen und verdrehten Fakten, ist abzulehnen. Es dient allein dazu, die Sowjetunion und die kommunistische Bewegung zu verunglimpfen und in den Dreck zu ziehen. Dass linke Kräfte das bis heute mitmachen, ist mehr als beschämend. Sie haben dem Antikommunismus einen Schub gegeben – und das wird in die Geschichte als Schande eingehen. Dazu gehört auch die Hinwendung der Linkspartei zum NATO-Kurs. Oder die Enthaltung bei der Abstimmung, in welcher der Bundestag die Hungerkatastrophe vor 90 Jahren in der Sowjetunion zum Völkermord an den Ukrainern erklärte. Das hat mit Taktik nichts mehr zu tun.

UZ: Wo siehst du die Aufgaben der Kommunisten in einer solchen Situation?

Bruno Mahlow: Wir wissen aus der Geschichte, dass jede Niederlage auch das Tor für neue Chancen öffnet. Leider tun sich auch revolutionäre Vertreter schwer, aus den Erfahrungen Lehren zu ziehen. Sie neigen dazu, alles noch einmal zu wiederholen – aber als Farce. Es ist manchmal zum Verzweifeln, aber dem dürfen wir nicht nachgeben. Dafür steht nicht nur das Beispiel der Volksrepublik China, sondern vor allem die sich vertiefende Krise des Kapitalismus. Dessen Vertreter suchen wieder einen Ausweg, einen, der immer in mehrere Kriege mündet. Und wenn nicht dorthin, dann in Abschaffung von Kultur und von Menschlichkeit. Hier geht es nicht allein um eine Frage des Klassenstandpunktes, sondern um normale menschliche Vernunft. Wenn die Rettung der Menschheit gelingen soll, dann rede ich noch nicht von einer neuen Weltordnung, von einer Vision für alle. Es ist vielmehr der Zeitpunkt gekommen, um allen zuzurufen: Wir dürfen einen Kurs zur Vernichtung der Menschheit nicht zulassen.

Jeder schaue sich in seinem Umkreis um, bei Kindern und Verwandten, Bekannten und Freunden: Nur wenn wir unbequem sind und sie mit dem konfrontieren, um was es heute geht, gibt es die Chance, etwas zu erreichen. Auch wenn wir nur eine Minderheit sind: Der Fortschritt in Wissenschaft und Technik und im gesellschaftlichen Wissen wurde immer von Minderheiten herbeigeführt. Allerdings sollten sie ein Konzept haben. Bei der Darstellung der Oktoberrevolution und der Geschichte der Sowjetunion stoßen wir immer darauf, dass nicht beachtet wird: Es gab kein fertiges Konzept. Aber die Machtfrage und die Eigentumsfrage wurden gestellt und sie bleiben auch heute die Kernfragen. Juri Andropow sagte im Juni 1983 auf einem ZK-Plenum der KPdSU: „Wir haben bisher noch nicht im erforderlichen Maße die Gesellschaft erforscht, in der wir leben und arbeiten, haben noch nicht die ihr eigenen Gesetzmäßigkeiten, insbesondere die ökonomischen, erschlossen. Deshalb sind wir gezwungen, sozusagen empirisch auf recht unrationale Weise mit Experimenten und Fehlern vorzugehen.“ Der Weg des Menschen zu einem sich als Eigentümer an gesellschaftlichem Eigentum Fühlenden habe sich als langwierig erwiesen. Letzteres wurde zwar in Liedern besungen, war aber nicht die Realität. Wenn es aber zu einer solchen Entartung in der Weltmacht kommt und wenn wir unsere Weltanschauung nicht weiterentwickeln, dann wirkt sich das auf die gesamte progressive Bewegung auf der Erde aus.

 

Die Krise hat globalen Charakter

Die Dialektik als Seele der kommunistischen Weltanschauung und ihre Nützlichkeit in Debatten über den Sozialismus und China.

Erstveröffentlichung am 20.01.2023 in der UZ

UZ: Im Grunde lautet ja Andropows Vorwurf, dass versäumt wurde oder dass man inzwischen sogar unfähig war, die ökonomische und gesellschaftliche Realität der Sowjetunion theoretisch zu erfassen. Wann begann das aus deiner Sicht?

Bruno Mahlow: Es geht nach meiner Meinung um den Verzicht darauf, unsere Weltanschauung weiterzuentwickeln. Ein Anfangspunkt war sicherlich das Jahr 1956 mit dem XX. Parteitag der KPdSU. Das war ernst. In der Rede Nikita Chruschtschows, der von 1953 bis 1964 an der Spitze der KPdSU stand, waren mehrere Dinge problematisch: zum Beispiel erstens die Proklamation der friedlichen Koexistenz ohne Klassenkampf. Zweitens: die Orientierung auf den parlamentarischen Weg zur Erringung der Macht und zum Aufbau des Sozialismus.

In Chruschtschows Herangehen an den Begriff und die Theorie des Sozialismus und Kommunismus kommt dann jener Voluntarismus zum Ausdruck, der schon in dieser Rede eine Rolle gespielt hatte. Auf dem XXII. Parteitag im Oktober 1961 wurde sogar beschlossen, bis 1970 die USA in der Pro-Kopf-Produktion zu übertreffen und bis 1980 in der Sowjetunion die kommunistische Gesellschaft im Wesentlichen aufzubauen. Festgeschrieben wurden ein Überfluss an materiellen und kulturellen Gütern sowie der allmähliche Übergang zum kommunistischen Prinzip der Verteilung nach Bedürfnissen. Die Industrieproduktion sollte auf mindestens das 6-Fache steigen, die Arbeitsproduktivität auf das 4,5-Fache, die landwirtschaftliche Produktion auf das 3,5-Fache – sie sollte schneller wachsen als die Nachfrage.

Alles zusammengenommen bedeutet das: Man hat den Gegner zunächst unterschätzt und die eigene Stärke überschätzt – und das entgegen allen Mahnungen, mit der eigenen Macht sorgfältig umzugehen.

Nur ein Beispiel: Nikolai Leonow, ein sowjetischer Aufklärer, Historiker, Schriftsteller und enger Freund von Raúl Castro und Che Guevara – er ist im vergangenen Jahr gestorben –, schildert in seinem 2017 auf Deutsch erschienenen Buch „Die letzten Aktionen des KGB“, dass seine Auswertungsabteilung 1975 ein Papier erstellte, in dem sie darlegte, „dass sich die UdSSR den Luxus nicht mehr leisten kann, Mittel und Kräfte im endlosen Raum dreier Gebiete zu verschleudern: Asien, Afrika und Lateinamerika“. Nötig sei die Konzentration auf eine begrenzte Anzahl von Staaten. Leonow schrieb, die Lieferungen in die „Dritte Welt“ seien „wie ein Krebsgeschwür“ gewachsen und hätten „dem geschwächten Organismus unseres eigenen Staates die Kraft“ entzogen. Das ZK der KPdSU habe aber nicht davon abgehen können, „dass die ‚Dritte Welt‘ die Reserve des Sozialismus“ sei. Ich sage dazu: Man hätte in der Bündnisfrage anders handeln, insbesondere den jeweiligen Entwicklungsstand der Länder und Regionen berücksichtigen müssen. Das alles muss mit herangezogen werden, wenn es darum geht, das eigene Weltbild zu korrigieren und die Dinge dorthin zu rücken, wohin sie gehören.

Das Problem, das ich damit anspreche, drückte sich auch im Umgang mit dem Sozialismusbegriff aus. Auf jedem Parteitag sollte etwas Neues verkündet werden, also war der Sozialismus mal „reif“, dann „entwickelt“, dann „vollkommen“. Mit der Realität hatte das wenig zu tun. Wir haben Mao Zedong für seinen „Großen Sprung“ kritisiert, vergessen aber, dass wir selbst fortlaufend Ähnliches hervorgebracht haben.

UZ: Die Weltsicht ist entweder realistisch oder unrealistisch, folgt der dialektisch-materialistischen Philosophie und Weltanschauung oder nicht. Was muss deiner Meinung nach bei der Entwicklung unserer Weltanschauung geleistet werden?

Bruno Mahlow: Das ist auch im Hinblick auf den bevorstehenden Parteitag der DKP eine enorm wichtige Frage. Ich glaube, wir sollten als Kommunisten unbedingt zu Problemen wie „Werte des Lebens“ oder „Qualität des Lebens“ Stellung nehmen. Dafür gibt es tiefe Gründe. Du erinnerst dich: Wir haben noch im vorigen Jahrhundert einmal über einen deiner Artikel diskutiert. Darin hast du sinngemäß geschrieben, die Entwicklung der Produktivkräfte verlange neue Produktionsverhältnisse. Die objektiven Voraussetzungen für den Sozialismus seien vorhanden, es liege nun in erster Linie am subjektiven Faktor. Das ist ein sehr wichtiger Gedanke, den man immer wieder ins Spiel bringen müsste.

Auf der subjektiven Seite stoßen wir auf die Frage: Was verstehen wir unter dem besseren Leben? Welche Rolle spielt dabei der Verbrauch? Lenin soll einmal gesagt haben: Sozialismus bedeutet nicht, dass die Menschen im Überfluss leben und an einem Trog sitzen, aus dem sich alle bedienen.

Zu dieser Debatte gehört auch das, was erstmals in der Geschichte in der Sowjetunion verwirklicht wurde: kostenlose Bildung von der Krippe bis zur Hochschule, Kultur für alle und ein allen zugängliches Gesundheitswesen, die Rechte der Frauen. Als mir einmal jemand aufzählte, was wir alles verloren haben, schrieb ich ihm: „Wir haben das Recht auf Arbeit und das Recht auf Liebe verloren.“ Letzteres leuchtete ihm allerdings nicht ein, aber hinter der Gleichberechtigung der Frauen steckt die Anerkennung der Liebe von Gleichberechtigten. Fest steht: Allein diese Errungenschaften genügen, um den Sozialismus zu würdigen. Denn die Formulierung aus der „Internationale“ „Ein Nichts zu sein, tragt es nicht länger/Alles zu werden“ gilt heute genauso wie vor 150 Jahren. Sie besagt auch: Wir müssen alle Chancen nutzen.

UZ: Du hast den subjektivistischen Umgang mit dem Sozialismusbegriff angesprochen. Was gehört in die Debatten darüber hinein?

Bruno Mahlow: Unsere Losung „Überholen, ohne einzuholen“ wurde belächelt. Sie bezeichnet aber genau die Herausforderung, vor der wir stehen: Es geht nicht um quantitatives, sondern um qualitatives Wachstum. Wir dürfen die Errungenschaften des Kapitalismus nicht verwerfen, es kommt aber darauf an, ihn nicht nachzuäffen. Ich habe den sowjetischen Freunden dieses Nachäffen wiederholt vorgeworfen – etwa bei der Gestaltung des Fernsehens.

Und noch eins möchte ich unbedingt anführen: Zum Sozialismus gehört der Internationalismus. Er war für mich in der Sowjetunion prägend. Zu ihm gehört aber auch eine tiefe Verbundenheit mit dem eigenen Land. Als wir aus Moskau nach Taschkent evakuiert wurden, sah ich als kleiner Junge auf den Zwischenstationen Verbandsplätze der Roten Armee. Mir hat sich eingeprägt, wie Verwundete nach „Mama“ riefen – das blieb bei mir haften. Ich habe früh begriffen, warum es im Russischen „Mutter Heimat“ heißt, obwohl es auch das Wort „Vaterland“ gibt. Zu diesem Thema „Mutter Heimat“ hat der Liedermacher Oleg Gamsanow, der sein Land nicht wie die populäre Sängerin Alla Pugatschowa verlassen hat, im Sommer 2022 einen Text geschrieben, in dem er sich bei der sowjetischen Heimat entschuldigt: „Sie war keine glamouröse Diva/Und auch ihr Stammbaum war einfach./Sie dachte nie an ihr persönliches Glück,/Sie schuftete tagsüber und nachts./Sie kümmerte sich um alles gleichzeitig, auch um uns,/Zog uns, junge Nerds, auf,/Versorgte uns, so gut sie es konnte./Sie gab uns ihr Letztes./Wir nörgelten und rümpften die Nasen./Sie wollte uns das Denken beibringen,/Schenkte manchmal Jeans und Kaugummi,/Doch wir wollten immer mehr, wollten viel./Und wir dachten, sie hätte Unrecht./Wir sprachen zu ihr auf verletzende Weise./Sie sah uns schweigend in die Augen/Und ging mit einem Seufzer für immer.“ Bei der DDR hat sich noch niemand entschuldigt.

Und zur „Mutter Heimat“ gehört meine Kindheit in der internationalen „Kommunalka“ – der Gemeinschaftswohnung – in Usbekistan. Da waren der Ukrainer Onkel Fedja, seine russische Frau Tante Dusja und die armenische Ärztin Anja, die es manchmal schaffte, die Krämpfe meines gelähmten Vaters zu lindern. Onkel Fedja brachte ihn bei Erdbeben, die es dort öfter gab, auf seinen Armen die Treppen hinunter. Ich bekam in der ersten Klasse die Ruhr – und wer besuchte mich? Die Lehrerin Lydia Wassiljewna. Das hat mich schon als kleinen Jungen tief beeindruckt.

Dieser Umgang miteinander war wichtig und es fing beim Kleinkind, im Grunde beim Embryo an. Ich betone das deswegen, weil ich zum Beispiel mit dem Pfarrer Uwe Holmer, der 1990 Margot und Erich Honecker bei sich aufnahm, darüber gestritten habe, ob der Mensch von Natur aus sündig ist. Holmer hatte erklärt: „Ich habe dem Herrn Honecker gesagt: Man kann nicht alles über den Kopf des Menschen hinweg erreichen wollen. Der Mensch ist von Natur aus sündig.“ Ich hatte große Achtung vor dem Pfarrer und seiner Familie, der in der DDR Unrecht getan wurde – alle zehn Kinder durften nicht die Erweiterte Oberschule besuchen. Angela Merkel kam dagegen im Schüleraustausch sogar nach Woronesch. Es hängt eben sehr viel von den konkreten Menschen ab und wir konnten nicht alle auf einmal neu backen.

UZ: Die Einzigartigkeit der Sowjetunion bestand auch darin, dass in ihr Völker zusammenlebten, die sich unter anderen Verhältnissen kaum hätten kennenlernen können.

Bruno Mahlow: Das ist richtig. Es gab auch eine entsprechende Toleranz. Und es kommt noch etwas hinzu: Das russische Volk wurde zu einer Art Stammvolk. Es gab aber auch immer die Auseinandersetzung mit dem großrussischen Chauvinismus.

UZ: In solchen Fällen wurde Lenin sehr ungemütlich.

Bruno Mahlow: Er hat sich zum Beispiel mit Grigori Ordschonikidse auseinandergesetzt, als der gegenüber Vertretern kaukasischer Nationen handgreiflich wurde. Auf der anderen Seite muss erwähnt werden: Stalin hat sich als Georgier in die russische Geschichte vertieft, kannte die russische Kultur. Im Krieg entdeckte er die Feldherren Russlands als Vorbilder und setzte sich mit der orthodoxen Kirche zusammen. Selbst dort, wo er seine Schwierigkeiten hatte, zeigte sich, dass er seine Haltung verändern konnte. Das erklärt, warum er am 24. Mai 1945 beim Empfang für die Befehlshaber der Roten Armee einen Toast auf das russische Volk ausbrachte und angesichts der Fehler der sowjetischen Führung in den Jahren 1941 und 1942 meinte: „Ein anderes Volk hätte zu seiner Regierung sagen können: Ihr habt unsere Erwartungen nicht gerechtfertigt, macht, dass ihr fortkommt, wir werden eine andere Regierung einsetzen, die mit Deutschland Frieden schließt und uns Ruhe sichert.“ Da merkte man, wie tief in seinem Innern das eine Rolle spielte.

Aus der Geschichte kann niemand streichen, welche Bedeutung die Brüderlichkeit zwischen Russland und der Ukraine spielt, obwohl es – vor allem von der ukrainischen Seite – immer wieder Probleme gab und das Messer in den Rücken gestoßen wurde. Das galt für die Kriege Russlands mit dem Königreich Polen-Litauen, denken wir nur an Nikolai Gogols Erzählung „Taras Bulba“, in der der Vater seinen eigenen Sohn, den Überläufer von den ukrainischen Aufständischen zu den Polen, erschießt.

Ich war oft in der Ukraine – ein schönes Land und Kiew ist eine sehr schöne Stadt. Aber vergessen wurde, dass dieses Land alles, was es hat, der Sowjetmacht verdankt – angefangen bei der eigenen Staatlichkeit, die auf eine Entscheidung Lenins zurückgeht.

UZ: Und nicht zu vergessen: Von 1920 bis 1939 war die Westukraine ein Teil Polens.

Bruno Mahlow: Die Ukraine wurde stets gefördert, ihre gesamte Industrie entstand zur Zeit der Sowjetunion. Der Banditismus, den wir dort jetzt erleben, ist noch schlimmer als ich es mir vorstellen konnte. Und ich kenne das Land, zumal meine verstorbene Frau nach der Befreiung Kiews 1943 dort ihre Schuljahre verbracht hat. Ihre Pflegeeltern haben die Ukraine erst später verlassen. Ich war dort auf Hochzeiten, die kaum begonnen hatten, als es schon mit antirussischen Parolen gegen die „Moskali“ losging. Das war zu tiefster sowjetischer Zeit.

UZ: Wie siehst du die unterschiedlichen Stellungnahmen auch von Marxisten zum Krieg in der Ukraine?

Bruno Mahlow: Ich möchte dazu – und das gilt auch für viele Äußerungen zu China – deutlich sagen: All die damit verbundenen Fragen und Probleme sind eine Herausforderung für unsere Weltanschauung. Deren Seele ist die Dialektik und ich äußere mich dazu als deren Anhänger. Es geht immer wieder um die Einheit und den Kampf der Widersprüche. Die methodische Bearbeitung dieses Problems sichert zum einen das schöpferische Herangehen an die gesellschaftliche Entwicklung, das heißt, die Dinge im Zusammenhang zu sehen. Die Dialektik ist zum anderen zugleich die Voraussetzung für die Vermeidung von Dogmatismus und Opportunismus. Für mich geht aus vielen Stellungnahmen hervor, dass der globale Charakter der heutigen Krise nicht erfasst wird. Die Welt verharrt seit mehr als einem Jahrzehnt in ihr und in Kriegen. Es nützt nichts, zu einem substanzlosen Waffenstillstand aufzurufen oder Vergleiche mit dem Brester Frieden von 1918 und Lenins Bereitschaft zum Kompromiss zu ziehen. Die Situation ist eine völlig andere.

Und wenn ich immer wieder höre: Was sollen wir denn machen? Sage ich: „Wir sehen uns bei den Kundgebungen für ‚Heizung, Brot und Frieden‘.“

 

 

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