Der „Seelentröster“ Clark ist nur ein Kriegspropagandist

Der Seelentröster


Der australisch-britische Geschichtsprofessor Christopher Clark warf kurz vor dem 100. Jahrestag der Entfesselung des ersten Weltkrieges ein besonders in Bundes-Deutschland hochgepuschtes Buch, „Die Schlafwandler“, auf den Markt. Damit befeuerte er die alte reichs-deutsche These, daß am „Ausbruch“ dieses Weltkrieges alle mög-lichen Leute schuld seien, nicht aber die politisch, ökonomisch und militärisch Mächtigen des Deutschen (Kaiser-)Reiches. Es hat zwar gut vier Jahre bis zur analytisch-fundierten Erwiderungsschrift von Klaus Gietinger gedauert, dafür aber konnte dieser schlussfolgernd auf ganz aktuelle Ereignisse eingehen.

 


Clark hatte behauptet, und tut dies noch heute, daß die seinerzeit Verantwortlichen lediglich „Schlafwandler“ gewesen sein, die nur mal so und irgendwie in den großen Krieg „hineingeschlittert“ seien. Und das kam 100 Jahre nach 1914 bei gewissen Kreisen hierzulande mehr als gut an, denn, so der Klappentext zu Gietingers Schrift: „Plötzlich öffneten sich dem 'Seelentröster' Clark wie von Zauberhand die Talkshows [sowie die Feuilletons der 'Qualitätsmedien'; SRK] und es wendete sich die Mehrheitsmeinung der Historikerzunft.“

Gietinger geht deshalb der Frage nach, ob es neuere Dokumente gibt, die dem bis dahin geltenden Erkenntnisstand widersprechen würden. In der Bundesrepublik war ja seit Anfang der 1960er Jahre durch den Historiker Fritz Fischer belegt worden, „daß die deutsche Reichsführung einen erheblichen Teil der historischen Verantwortung für den 'Ausbruch' des allgemeinen Krieges“ trug. Wenn Gietinger aber auch über den bundesdeutschen Tellerrand geblickt hätte, dann hätte er bemerken müssen, daß das in der DDR von Anfang an durch Dokumente belegter Wissensstand war. Immer wenn bei Gie-tinger die Rede von deutscher Geschichtsschreibung die Rede ist, dann ist damit leider stets allein die bundesdeutsche gemeint. Und leider nie die marxistische der Zwischenkriegszeit und erst recht nicht die in der DDR. Beide waren aber immerhin niemals Apologien des deutschen Imperialismus und Militarismus.

Eines aber will Gietinger aber dennoch und das macht den Wert seiner Arbeit aus, unter Bezug auf die Geschichte – und sehr deutlich auf die lange Vorgeschichte des I. Weltkriegs, vermitteln – und damit ist er eben ganz heutig: Kriege brechen nicht einfach so aus, Kriege werden immer aus (primär) wirt-schaftlichen Interessen heraus gemacht. Nur die agitatorischen Vorwände ändern sich mit der Zeit. Neu ist vor allem, so Gietinger, daß heuer Kriege wieder als Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln präsentiert werden. Und alleinschuldig daran seien stets die Opfer, also die überfallenen Länder und deren politischen Führungen. Mit Machwerken wie Clarks pseudowissenschaftliches Buch soll eben genau das ins Bewußtsein der Massen eingehämmert werden.

Gietinger, wie auch sein Mitautor Winfried Wolf, unterziehen Clarks Thesen (man sollte besser sagen: Behauptungen) einer umfangreichen kritischen Analyse, die zwar oft bis ins Detail geht, aber dabei das wesentliche nicht aus den Augen verliert. Gietinger weist vor allem nach, daß Clark sich keinesfalls auf neu zugängliche Quellen stützt, sondern vielmehr viele bestens bekannte Quellen konsequent negiert. Wenn sie ihm eben nicht in sein Schema passen. Und Kern seines Schemas ist dieser: Die Serben sind an allem schuld, weil allein sie expansiv und gewalttätig auf dem Balkan agieren würden. Und im Hintergrund immer die noch „böseren“ Russen.

Es muß als besonderes Verdienst von Gietingers Buch angesehen werden, daß er wieder und wieder Fragen stellt und zwar die richtigen. Z.B., warum Clarks Machwerk so umfangreich in allen Mainstream-Medien gepuscht worden ist. Oder warum ausgerechnet eine militärisch eskalierende deutsche Außen-politik vom Kaiserreich bis hin zur größer gewordenen Bundesrepublik das normalste der Welt sein soll. Vor allem aber bedient Clark die aktuellen Feindbilder von NATO, EU, USA und Merkel-Deutschland: Serbien und mehr noch Rußland.

Und Gietingers Hauptverdienst besteht deshalb nicht so sehr in der Widerlegung der Clark'schen The-sen, sondern in der Entlarvung von Clark & Consorten als Kriegspropagandisten. Solche braucht das kapitalistische System, insbesondere in seinem imperialistischen Stadium: Denn Kriege fallen eben nicht vom Himmel oder brechen irgendwie aus. Sie werden auch nicht von regierenden Personen schlafwan-delnd nur mal so erklärt. Kriege, egal ob mit Waffen oder „nur“ mit Wirtschaftssanktionen und Propa-ganda, sind Teil und Folge kapitalistischer Produktionsverhältnisse: Da geht es nach wie vor immer nur um eines, trotz aller Menschenrechtsduselei, um die Maximalprofite der wirklichen Herrschenden, also der Monopolkapitalisten. Es gilt dabei: Angriffskrieg beginnt mit einer Artillerie-Vorbereitung. Wobei diese immer weniger mit Kanonen und Haubitzen durchgeführt wird, sondern mit dem viel effentiveren medialen Feuer. Das aber weniger den Gegner schwächen soll, sondern die „Heimatfront“ stärken, um jedweden inneren Widerstand schon im Keime zu ersticken.

Nach dieser langen Vorrede und schon erster Würdigung nun aber zum konkreten Inhalt des Buches von Gietinger, das dieser in zehn Kapitel gegliedert hat. Vorangestellt ist ein etwa 40 Seiten langer Text von Wilfried Wolf, der Gietingers Aussagen komprimiert – in neun Thesen – zusammenfaßt und somit den Bezug zum Hier und Heute darstellt: „Imperialismus und Erster Weltkrieg als Warnung vor kommenden Kriegen“.

Allerdings würde die ausführliche Betrachtung des Inhaltes den Umfang einer Rezension „sprengen“. Lobenswert ist, daß Gietinger die meisten der Kapitel mit einer prägnanten Zusammenfassung abschließt. Die Kapitelüberschriften und darin die Zwischenüberschriften sprechen für sich und mögen daher an dieser Stelle genügen:

Erstens, „Seelentröster Oder: Kein Griff nach der Weltmacht?“ Darin u.a.: Christopher Clark bewahrt uns vor [deutschen; SRK] Massakern.

Zweitens, „1897 – Made in Germany: Weltpolitik – Weltmacht – Weltherrschaft“

Drittens, „Strategien deutscher Denker und deutschen Kapitals“

Viertens, „1900 – Militär – Preußen“

Fünftens, „1907 – Die SPD und der Krieg“

Sechstens, „1912 – 'Schurkenstaat' Serbien und der Balkan als Zünder“

Siebentens, „Die Julikrise 1914 – Clarks Verzerrungen der deutsch-österreichischen Aggressionspolitik“ Darin u.a. Der beabsichtigte (!) Krieg gegen Serbien; Das (unannehmbare) Ultimatum.

Achtens, „Das Wie und Warum der Clark'schen Methodik“

Dazu schreibt Gietinger u.a.: „Clark benutzt den Titel seines Buches nur als Nebelwerfer. Und seine angebliche WIE-Methode dient ihm einzig dazu, die Politiker Serbiens, Frankreichs, Rußlands und Englands historisch unlauter mit zahlreichen wertenden Adjektiven anzuschwärzen und die Deutschen und Österreicher als Vernünftige darzustellen. (…) Clark ergänzt so individualpsychologisch seine 'Europäisierung' Fischers, die mit Weglassungen und Verzerrungen des WIE einhergeht. Hinter einem Wust an Informationen, scheinbaren Abwägungen und Differenzierungen, dem 'flott geschriebenen' 'Zettelkasten' offenbart sich ein zutiefst einfaches Schwarz-Weiß-Weltbild!“ (S. 282)

Neuntens, „Weltkrieg“ und

Zehntens „Schluß“

Darin schreibt Gietinger u.a.: „Man fragt sich, warum er all dies macht. Man könnte unterstellen, er sei so naiv unschuldig, wie er auftritt. (…) Clark ist ein Historiker seiner Zeit. Und diese Zeit ist die eines neuen Imperialismus (Afghanistan, Irak, Libyen, Syrien), in dem unter dem Vorwand der Terrorismus-Bekämpfung Weltpolitik betrieben wird, wobei die deutschen Regierungen und die seit der Wiedervere-inigung erstarkten Eliten in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle spielen. (…) In einer solchen Situation erscheint es mehr als opportun, die Deutschen von der Last der Geschichte wenigstens teil-weise zu befreien. Damit sie mit den Westmächten zusammen, wie Atlas, die Welt und den formellen wie informellen Imperialismus besser tragen und den noch westlich beherrschten Globus gegen alte und neue östliche oder südöstliche Mächte wirtschaftlich – und militärisch – 'verteidigen' können.“ (S. 301-302)

Dem ist nichts hinzuzufügen. Außer einer kleinen Anmerkung: „Die Deutschen“ - das trifft es nicht. Denn diese „Die Deutschen“, das sind lediglich die sich selbst „die Eliten“ nennenden herrschenden Klassen nebst ihrem dienstbaren Fußvolk in Politik, Verwaltung und Medien...

Während der telegen-eloquente Clark vorgibt, wissenschaftlich arbeitender Historiker zu sein, aber alles andere als wissenschaftlich an seinen Gegenstand herangeht, hat der Künstler (Filmemacher) Gietinger eine saubere wissenschaftlich fundierte und argumentierende Arbeit abgeliefert. Aber auch er ist nicht ohne Fehl: Denn auf den Seiten 294 und 295 kolportiert er absolut unkritisch antikommunistische Pro-paganda-Behauptungen über die russische Oktoberrevolution, die Bolschewiki und Lenin sowie die frü-he Sowjetregierung. Das ist schade, schmäert aber nicht das Wesentliche dieses Buches.

Ein umfangreicher Anhang mit der Vorstellung der wichtigsten handelnden Personen, einer Chronik der wesentlichen Ereignisse und – besonders lobenswert – einer kurzen Zusammenfassung von Clarks Buch tragen zur Vertiefung von Gietingers Aussagen bei. Hervorhebenswert ist unbedingt auch das (vielsa-gende) Titelbild, das einen deutsche Soldaten segnenden evangelischen Pastor zeigt.

 Siegfried R. Krebs

 

Klaus Gietinger & Winfried Wolf: Der Seelentröster. Wie Christopher Clark die Deutschen von der Schuld am I. Weltkrieg erlöst. 346 S. m. Abb. Paperback. Schmetterling-Verlag. Stuttgart 2017. 19,80 Euro. ISBN 978-3-89657-476-0

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