08.09.2022

 

14. August 2022 - Der 60. Todestag des Grenzoffiziers Rudi Arnstadt

 

Sehr viele Menschen kamen vor 60 Jahren zur Trauerfeier für Hauptmann Rudi Arnstadt in das Kulturhaus Geisa, errichtet etwa zu der Zeit, als der Tote im benachbarten Wiesenfeld Kompaniechef geworden war. Seither waren fast fünf Jahre vergangen.  Nun mussten seine Soldaten an diesem Hochsommertag im August des Jahres 1962 Abschied von ihrem Vorgesetzten nehmen. Mit ihnen trugen sich 945 Trauergäste in das Kondolenzbuch ein. Die unnatürliche Todesursache, die das Leben des 35jährigen Grenzoffiziers zwei Tage zuvor jäh beendet hatte, hinterließ tiefe Ergriffenheit bei ihnen allen. Was war passiert?

Ein schwerer Zwischenfall hatte sich an der Grenze zwischen den beiden deutschen Staaten, die damals noch keine UNO-Mitglieder waren, am 14. August 1962 ganz in der Nähe von Wiesenfeld zugetragen. Ein Zeuge wurde Gerhard Elies, der darüber folgendes schriftlich berichtete: „Nach einem Jahr der Fortsetzung der Ausbildung erhielt das Bataillon erneut den Befehl zum Einsatz an der Staatsgrenze. Diesmal sollten wir Pionierarbeiten zur Grenzbefestigung in der Rhön durchführen.“ Gerhard Elies war Kommandeur des 1. Motorisierten Schützenbataillons Brandenburg/Havel, das seit Juli 1962 Betonpfähle transportierte, deren Eingraben und das Spannen mehrerer Reihen Stacheldraht durchzuführen hatte. Weiter berichtete Gerhard Elies dann über den verhängnisvollen Gang des Geschehens, das sich gegen 11.00 Uhr an jenem Dienstag entwickelte:

“Kurz darauf meldete sich bei mir der Hauptmann der Grenztruppen Rudi Arnstadt. Er wollte eine Grenzkontrolle durchführen. Ich stand mit ihm bei einer Gruppe von Offizieren und Unteroffizieren meines Bataillons. Plötzlich sahen wir eine Gruppe BGS-Beamte das Gebiet der DDR betreten und direkt auf uns zukommen. Als diese fast auf unserer Höhe waren, wurden sie von Hauptmann Arnstadt aufgefordert, das Territorium der DDR zu verlassen. Das taten sie dann auch und wir verloren sie aus unserem Blickfeld. 

Nach kurzer Zeit kam die BGS-Streife jedoch zurück und drang abermals auf unser Gebiet vor. Hauptmann Arnstadt musste diesen BGS-Offizier gekannt haben, denn er redete ihn mit ,Hauptmann Meißner´ an und forderte ihn in energischem Ton auf, die DDR zu verlassen. Der den Hauptmann Arnstadt begleitende Grenzsoldat reagierte mit einem Warnschuss in die Luft, was die BGS-Streife zum erneuten Rückzug veranlasste. In diesem Augenblick fiel aus dem jenseits der Grenze befindlichen Roggenfeld ein Schuss. BGS-Angehörige etwa in Zugstärke kamen in Schützenkette auf uns zu. Dabei beschossen sie uns aus ihren Waffen. Die Leute meines Bataillons waren unbewaffnet. Wir hatten lediglich in Abständen von zweihundert bis dreihundert Meter Sicherungsposten eingesetzt. Einer der Sicherungsposten, der sich in unmittelbarer Nähe befand, schoss zurück, ohne jedoch jemanden dabei zu verletzen.

Nach weiteren Feuerstößen und meiner lauten Aufforderung, das Schießen einzustellen, kamen die BGS-Beamten meiner Aufforderung nach. Inzwischen waren wir in Deckung gegangen und hatten Hauptmann Arnstadt, der gleich vom ersten Schuss getroffen wurde, mit in die schützende Deckung gezogen. Als ich mich ihm zuwandte, sah ich, dass er durch einen Kopfschuss tödlich getroffen worden war.

Von diesem Ereignis erschüttert, gab ich den Befehl zur sofortigen Einstellung der Pionierarbeiten, zum Rückzug und zur Herstellung der Gefechtsbereitschaft im Hinterland. Wer von uns wusste schon, was diesem Verbrechen noch folgen würde.“

Ein Jahr zuvor war entlang der Grenze der DDR von der bisherigen Grenzüberwachung zur lückenlosen militärischen Grenzsicherung übergegangen worden, wozu mehrere Ursachen der politischen Entwicklung diesseits und jenseits der ursprünglichen Demarkationslinie gravierend beigetragen hatten. Zweifellos galt damals wie heute im historischen Rückblick eine Tatsache als unstrittig:  Was 1961 in der Mitte Europas an der sensiblen Grenze zwischen den zwei feindlichen Machtblöcken geschah, wurde von den Großmächten und niemandem sonst entschieden. Andere Deutungen könnten schnell in den Ruch der Realitätsferne oder gar des politischen Missbrauchs geraten, damals wie heute.

Zwei Monate vor dem 13. August hatte es Anfang Juni 1961 in Wien das sowjetisch-amerikanische Spitzentreffen zwischen Chruschtschow und Kennedy gegeben. Die westlichen Großmächte hielten sich während der Grenzschließung auffällig zurück; USA-Präsident und Oberbefehlshaber Kennedy unternahm an jenem Sonntag einen Ausflug mit seinem Kabinenkreuzer „Marylin“ auf dem Atlantik, der britische Premier Macmillan war zum Urlaub in Schottland. 

Ein Jahr später nun der tödliche Schuss aus dem Schnellfeuergewehr eines Grenzoberjägers des Bundesgrenzschutzes (BGS). Die Akten zur Ermordung Hauptmann Rudi Arnstadts befanden sich bis zum 2. Oktober 1990 bei der Generalstaatsanwaltschaft der DDR in Berlin. Die Untersuchung der Ermordung des Hauptmanns wurde durch die Morduntersuchungskommission der Bezirksbehörde der Volkspolizei Suhl und der Staatsanwaltschaft des Bezirkes Suhl durchgeführt.

Die Ermordung wurde zweifelsfrei festgestellt. Die Untersuchungen hatten eindeutig ergeben, dass sich Rudi Arnstadt zum Zeitpunkt seiner Ermordung diesseits des 10 m Kontrollstreifens befand, während sich die Angehörigen des BGS zwischen dem direkten Verlauf der Staatsgrenze und dem 10 m Kontrollstreifen, auf DDR-Territorium, aufhielten. Die Lage des Toten und der Verlauf des Einschusskanals waren eindeutig. Es wurde festgestellt, dass Zeit- und Handlungsabfolge der Tat den augenscheinlichen Schluss einer gezielten Provokation zulassen. Im März 1990 wurde in einem amtlichen Schreiben nochmal hervorgehoben, dass jederzeit in dieser Sache Rücksprache mit der Generalstaatsanwaltschaft der DDR geführt werden kann und die genannten Fakten jederzeit in der Öffentlichkeitsarbeit verwendet werden können.

Dem Todesschützen vom BGS hatte die Staatsanwaltschaft Fulda, die ebenfalls ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts des Totschlags führte, eine Notwehrsituation zugebilligt und im Herbst des Tatjahres wegen erwiesener Unschuld eingestellt. Grenzoberjäger Hans Plüschke, so der bürgerliche Name des aus dem Saarland stammenden Todesschützen, beendete 1970 seine reguläre Dienstzeit. In den Jahren zuvor war er in der 8. Hundertschaft des BGS in Hünfeld als Schießwart, eigentlich eine Zivilplanstelle, eingesetzt. Für diese Stelle bewarb er sich zu beruflichen Sicherung seiner Zukunft, erhielt aber eine Ablehnung durch zuständige Stellen. Beim Zollgrenzdienst scheiterte der nächste Bewerbungsversuch und auch die Landespolizei Hessen lehnte eine Übernahme ab. Galt der ehemalige Grenzoberjäger für sie alle nun als „Sicherheitsrisiko“?

Im Jahre 1997 wurde erneut Anzeige gegen BGS-Hauptmann Meißner und seine Begleiter Plüschke und Koch erstattet. Zunächst wurde die Zuständigkeit für diese Anzeige hin und her geschoben.  Dann teilte die Staatsanwaltschaft beim Landgericht Fulda dem beauftragten Rechtsanwalt Dr. Osterloh im April 1998 mit, dass sie die Sache jetzt übernommen habe. Schon nach vier Wochen, am 6. Mai 1998, wurde das Ermittlungsverfahren von Oberstaatsanwalt Schneider in Fulda eingestellt, weil sich „das Ermittlungsergebnis nicht anders dar(stellt), als in der seinerzeitigen Einstellungsverfügung der Staatsanwaltschaft Fulda vom 08.10.1962“.  Also: Kein Kläger, auch kein Richter!?

In Wiesenfeld wurde damals im August 1962 so mancher Einwohner Ohrenzeuge des Grenzzwischenfalls, die Schüsse hallten bis ins Dorf hinunter. In späteren Stunden als der Tod von Rudi Arnstadt sich unter den Dorfbewohnern herumgesprochen hatte, waren auch sie sehr betroffen.

Der Kompaniechef, seit 1. Oktober 1957 in dieser Dienststellung, galt unter ihnen als freundlicher und hilfsbereiter Mensch. Die Untergebenen in der Grenzkompanie dienten gern unter Rudi Arnstadt. Noch heute kommen Soldaten von damals zum Gedenken an Rudi Arnstadt, wenn ihre Kameradschaft dazu einlädt. So wird es auch an diesem Sonntag sein; es ist der 60. Todestag ihres Kompaniechefs.
Vom Kulturhaus Geisa fuhr ein langer Trauerkonvoi durch die Städte und Dörfer des damaligen Grenzkreises Bad Salzungen und dann weiter über die Autobahn 4, um den Leichnam des Ermordeten in seine Geburtsstadt Erfurt zu überführen. Überall, das ist sicher überliefert, erwiesen viele Bürgerinnen und Bürger dem Toten die Ehre. Mit vielen Schulkameraden erlebte auch der Autor dieses Beitrages im Heimatort Barchfeld und mitten in den Sommerferien die Durchfahrt des Konvois. Es wurde ein einmalig trauriges Ereignis für uns Jugendliche, aber ebenso für hunderte Erwachsene. Rudi Arnstadt war vielen Barchfeldern persönlich bekannt, der VEB Kettenfabrik hatte jahrelang einen Patenschaftsvertrag mit der Grenzkompanie in Wiesenfeld. Viele Jahre gab es wechselseitige Besuche zwischen Grenzern und Betriebsbelegschaft aus ganz unterschiedlichen Anlässen. Sogar bei Sportfesten war man gemeinsam angetreten. In dieser Stunde blickten wir alle voller Trauer und schweigend auf den G5-Laster mit dem geschmückten Sarg, sahen auch die aufgesessenen Ehrenposten der Armee.

Am nächsten Tag fand auf dem Erfurter Hauptfriedhof die Beisetzung statt. 6 000 Menschen nahmen am Begräbnis, darunter viele ehemalige Arbeitskollegen aus der Optima, zu denen Rudi Arnstadt stets Kontakt hielt, teil. Die 74jährigen Pflegemutter, die den kleinen Rudi im Alter von fünfzehn Wochen angenommen hatte, fiel dieser Abschied bestimmt am schwersten.

Die Grabstätte Rudi Arnstadts im Ehrenhain für die antifaschistischen Widerstandskämpfer auf dem weiten Friedhofsfeld ist von der Stadt Erfurt als Denkmal der DDR-Geschichte eingetragen.

(Rainer Döhrer, 2022)

 

siehe auch dazu den Beitrag vom 23.08.2022:   60. Jahrestag der Ermordung von Hauptmann Rudi Arnstadt

 

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