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80 Jahre nach dem Überfall auf die Sowjetunion: Wladimir Putin schreibt über seine Sicht auf Europas Geschichte und seine Vorstellung von einer gemeinsamen Zukunft.
Ein Gastbeitrag von Wladimir Putin
www.zeit.de, 22.06.2021
Offen sein, trotz der Vergangenheit
Wladimir Putin ist Präsident der Russischen Föderation.
Vor genau 80 Jahren, am 22. Juni 1941, überfielen die Nationalsozialisten, nachdem sie ganz Europa erobert hatten, die UdSSR. Für das sowjetische Volk begann damit der Große Vaterländische Krieg, der blutigste in der Geschichte unseres Landes. Dutzende Millionen Menschen starben. Wirtschaft und Kultur trugen immense Schäden davon.
Wir sind stolz auf den Mut und die Standhaftigkeit der Helden der Roten Armee und der Arbeiter daheim, die nicht nur die Unabhängigkeit und Würde ihres Vaterlandes verteidigten, sondern auch Europa und die ganze Welt vor der Versklavung retteten. Ungeachtet jüngster Versuche, die Kapitel der Vergangenheit neu zu schreiben, lautet die Wahrheit, dass der Sowjetsoldat seinen Fuß nicht auf deutschen Boden setzte, um sich an den Deutschen zu rächen, sondern um seine edle und große Befreiungsmission zu erfüllen. Das Gedenken an die Helden im Kampf gegen den Nazismus ist uns heilig. Dankend erinnern wir an die Alliierten der Anti-Hitler-Koalition, die Kämpfer der Résistance und die deutschen Antifaschisten, die den gemeinsamen Sieg näher brachten.
Vor zwei Wochen wandte sich die russische Botschaft an die ZEIT und bot einen Artikel von Wladimir Putin an. Anlass ist der 80. Jahrestag des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion; eines Ereignisses, das Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in einer Rede gerade einen "Feldzug" nannte, getrieben vom "Wahn totaler Vernichtung". Am Samstag traf der Text von Russlands Präsident bei der ZEIT ein, zunächst auf Russisch, später auf Deutsch. Putin legt darin auch seine Sicht der jüngsten europäischen Geschichte dar. Die Ereignisse 2014 in der Ukraine bezeichnet er als von Europa unterstützten "Staatstreich", schreibt vom "Austritt" der Krim. Die Bundesregierung und die EU dagegen sprechen von "Völkerrechtsbruch" und einer "Annexion" der Krim durch Russland.
Trotz der schrecklichen Erlebnisse des Weltkrieges haben die Völker Europas es geschafft, Entfremdung zu überwinden und zu gegenseitigem Vertrauen und Respekt zurückzufinden. Sie nahmen Kurs auf Integration, um einen Schlussstrich zu ziehen unter die europäischen Tragödien der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts. Ich möchte insbesondere darauf hinweisen, dass die historische Aussöhnung zwischen unserem Volk und den Deutschen in Ost und West des inzwischen vereinten Deutschlands eine kolossale Rolle bei der Gestaltung eines solchen Europas spielte.
Erinnert sei auch daran, dass es deutsche Unternehmer waren, die in den Nachkriegsjahren zu Pionieren der Kooperation mit unserem Land wurden. 1970 wurde zwischen der UdSSR und der Bundesrepublik mit der Vereinbarung über langfristige Gaslieferungen nach Europa ein "Deal des Jahrhunderts" geschlossen. Damit wurden der Grundstein für eine konstruktive Interdependenz gelegt und im Folgenden viele großartige Projekte, wie zum Beispiel Nord-Stream, ermöglicht.
Wir hofften, dass das Ende des Kalten Krieges einen Sieg für ganz Europa bedeuten würde. Nicht mehr lange, so schien es, und Charles de Gaulles’ Traum vom geeinten Kontinent würde Wirklichkeit werden, und das weniger geografisch vom Atlantik bis hin zum Ural als vielmehr kulturell und zivilisatorisch von Lissabon bis Wladiwostok.
Gerade in diesem Sinne – in der Logik der Gestaltung eines Großen Europas, das durch gemeinsame Werte und Interessen zusammengehalten würde – wollte Russland seine Beziehungen zu den Europäern aufbauen. Sowohl wir als auch die Europäische Union konnten auf diesem Wege viel erreichen.
Es setzte sich jedoch ein anderer Ansatz durch. Diesem lag die Erweiterung der Nordatlantischen Allianz zugrunde, die selbst ein Relikt des Kalten Krieges war. Denn geschaffen war sie ja zur Konfrontation aus der damaligen Zeit heraus.
Die Grundursache des zunehmenden gegenseitigen Misstrauens in Europa lag im Vorrücken des Militärbündnisses gen Osten, das im Übrigen damit begann, dass die sowjetische Führung de facto überredet wurde, dem Nato-Beitritt des geeinten Deutschlands zuzustimmen. Die damaligen mündlichen Zusagen nach dem Motto "Das ist nicht gegen euch gerichtet" oder "Die Blockgrenzen werden nicht an euch heranrücken" wurden nur allzu schnell vergessen. Der Präzedenzfall wurde geschaffen.
So rollten seit 1999 fünf weitere "Wellen" der Nato-Erweiterung. 14 weitere Staaten traten dem Bündnis bei, darunter ehemalige Sowjetrepubliken, was alle Hoffnungen auf einen Kontinent ohne Trennlinien de facto zunichtemachte. Davor gewarnt hatte im Übrigen einer der SPD-Spitzenpolitiker, Egon Bahr, der Mitte der Achtzigerjahre eine radikale Umgestaltung des gesamten europäischen Sicherheitsgefüges nach der deutschen Einheit vorschlug. Unter Beteiligung sowohl der UdSSR als auch der USA. Doch weder in der UdSSR noch in den USA oder in Europa wollte man auf ihn hören.
"Wir sind offen für ein faires und kreatives Zusammenwirken"
Mehr noch, viele Länder wurden vor eine künstliche Wahl gestellt – entweder mit dem kollektiven Westen oder mit Russland zusammenzugehen. De facto war dies ein Ultimatum. Die Konsequenzen dieser aggressiven Politik führt uns das Beispiel der ukrainischen Tragödie von 2014 anschaulich vor Augen. Europa unterstützte aktiv den bewaffneten verfassungswidrigen Staatsstreich in der Ukraine. Damit hat alles begonnen. Wozu war das nötig? Der damals amtierende Präsident Viktor Janukowitsch hatte ja bereits alle Forderungen der Opposition akzeptiert. Warum organisierten die USA diesen Staatsstreich und unterstützten die EU-Staaten ihn willenlos und provozierten somit die Spaltung innerhalb der Ukraine und den Austritt der Krim aus dem ukrainischen Staat?
Das gesamte europäische Sicherheitssystem ist derzeit in einem desolaten Zustand. Spannungen nehmen zu, das Risiko eines neuen Wettrüstens ist greifbar. Wir lassen uns enorme Möglichkeiten entgehen, die uns die Kooperation bietet. Diese ist heute umso wichtiger, da wir uns alle mit den gemeinsamen Herausforderungen der Pandemie und deren äußerst schwerwiegenden sozialen und wirtschaftlichen Folgen konfrontiert sehen.
Warum passiert das? Und vor allem: Welche Schlussfolgerungen müssen wir gemeinsam ziehen? Auf welche Lehren aus der Geschichte sollten wir uns besinnen? Meines Erachtens geht es vor allem darum, dass die gesamte Nachkriegsgeschichte des Großen Europas Folgendes unter Beweis gestellt hat: Prosperität und Sicherheit unseres gemeinsamen Kontinents sind nur durch gebündelte Anstrengungen aller Länder, einschließlich Russlands, möglich. Denn Russland ist einer der größten europäischen Staaten. Und wir spüren unsere untrennbaren kulturellen und geschichtlichen Bande zu Europa.
Wir sind offen für ein faires und kreatives Zusammenwirken. Dies unterstreicht auch unsere Anregung, einen gemeinsamen Kooperations- und Sicherheitsraum vom Atlantik bis hin zum Pazifik zu schaffen, der verschiedene Integrationsformate einschließen könnte, unter anderem die Europäische Union und die Eurasische Wirtschaftsunion.
Ich möchte noch einmal betonen: Russland plädiert für die Wiederherstellung einer umfassenden Partnerschaft zu Europa. Es gibt viele Themen von gemeinsamem Interesse: Sicherheit und strategische Stabilität, Gesundheit und Bildung, Digitalisierung, Energiewirtschaft, Kultur, Wissenschaft und Technologie, Lösungen für Klima- und Umweltprobleme.
Die Welt entwickelt sich dynamisch weiter und wird mit immer neuen Herausforderungen und Bedrohungen konfrontiert. Und wir können es uns einfach nicht leisten, die Last früherer Missverständnisse, Kränkungen, Konflikte und Fehler mit uns herumzuschleppen. Eine Last, die uns an der Lösung aktueller Probleme hindert. Wir sind überzeugt, dass wir alle diese Fehler einzuräumen und zu korrigieren haben. Unser gemeinsames und unstrittiges Ziel ist es, die Sicherheit des Kontinents ohne Trennlinien und einen einheitlichen Raum für eine gleichberechtigte Kooperation und kollektive Entwicklung im Sinne der Prosperität Europas und der ganzen Welt sicherzustellen.
www.zeit.de, 22.06.2021