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- Ein Jahrestag, mehr als nur zum Gedenken
von Oberstleutnant a.D. Siegfried Eichner
Am 22 Juni jährt sich zum 80. Mal jener Tag, an dem das faschistische Deutschland gemeinsam mit seinen Satelliten heimtückisch und vertragsbrüchig die Sowjetunion überfiel. An diesem Tag trat der 2. Weltkrieg in eine neue Phase ein, es begann der blutigste, zerstörerichsten und opferreichste Krieg, den die Menschheit bis dato erlebt hatte. Und es war der Anfang vom Ende des Hitler-Faschismus, auch wenn die ersten Kriegstage, Wochen und Monate dies noch nicht so deutlich werden ließen.
Wenn ich an den Beginn dieses Krieges denke, fällt mir immer eine Episode aus einem Buch über den 2. Weltkrieg ein, an dessen Titel ich mich aber nicht mehr erinnere. Der Protagonist des Buches ist ein junger Soldat, der im Frühjahr 1941 als Artillerist zum Kriegsdienst eingezogen wurde. Als Bauernsohn und pferdeerfahren wird er Pferdebursche seines Batteriechefs. Die Batterie ist wie viele andere Einheiten im Osten Polens stationiert und wird ausgebildet. Es kursiert unter den Landsern das Gerücht, dass man bald durch russisches Territorium nach Indien marschieren werde, um England an seiner empfindlichsten Stelle zu treffen. Kurz vor Mitternacht des 21. Juni gibt es Übungsalarm. Es geht zum Manöver hinaus. Die Batterie formiert sich und marschiert ostwärts.
Im Morgengrauen stehen die Soldaten am Westufer des Bug. Die Nacht ist noch völlig still. Der Batteriechef hält ein markige Rede, dass „der Führer erneut das Schicksal des deutschen Volkes in die Hände seiner siegreichen Soldaten gelegt habe und dass es jetzt darum gehe, das bolschewistischen Regime zu zerschlagen.“ Die Einheit durchquert den Bug und noch immer bleibt es in diesem Grenzabschnitt völlig still. Dem jungen Soldaten fällt auf, dass man sich einfach über die Grenze hinein in die Sowjetunion und in den Krieg manövriert hat. Richtig bewußt wird ihm das aber erst, als seine Batterie beginnt, den sowjetischen Grenzposten zu beschießen.
Beim Lesen dieser Episode fielen mir Parallelen zum Schicksal meines Vaters auf.
Geboren 1920 wird er im Herbst 1940 oder im Frühjahr 1941 eingezogen. Als Bauernsohn kommt er zur bespannten Artillerie, zunächst zur Besatzungstruppe nach Frankreich. Weil es für ihn kein Pferd gibt, das er nicht reiten kann, wird er Pferdebursche des Batteriechefs. Weil er Pferde und Uniformen tadellos in Ordnung hielt, tolerierte der Batteriechef so dies und jenes. Dem Spieß schien das aber keineswegs zu gefallen. Der nutzte den Urlaub des Chefs im Sommer 1941 aus und setzte meinen Vater per Marschbefehl nach Russland in Marsch.
Vom Beginn des Krieges gegen die Sowjetunion waren meinem Vater endlose Märsche nach Osten in Erinnerung geblieben. 70 km täglich im Sattel waren wohl keine Seltenheit gewesen. Mehr als einmal hatte selbst er als erfahrener Reiter sich den Ar… wund geritten. Zu Beginn des Jahres 1942 saß die Batterie in einem russischen Dorf fest, dass von seinen Bewohnern verlassen war. Hoher Schnee und Fröste um die -40°C zwangen Männer und Pferde in die russischen Holzhäuser. Es könnte der Demjansker Kessel gewesen sein, denn Vater sprach davon, dass die Verpflegung knapp war und es kein Futter für die Pferde gab. Die Soldaten trauten sich kaum in die Hütten zu den Pferden, denn diese hätten Unvorsichtigen die Taschen von den Uniformjacken gerissen, wenn da zuvor ein Stück Brot in der Tasche war. In ihrer Not hätten die Pferde die Dielen der Häuser gefressen.
Erzählungen gab es auch von der Schlacht am Kursker Bogen. Seine Batterie war in dem am weitesten westlich gelegenen Teils der Frontausbuchtung zur Deckung der Verteidigungslinie eingesetzt gewesen. In ihrem Abschnitt sei es während der Schlacht ruhig geblieben. Wie wir wissen sind die Truppen der Roten Armee nach der Zerschlagung der deutschen Angriffsgruppierungen an der nördlichen und südlichen Basis des Frontbodens durchgebrochen. Als wegen der Gefahr der Einschließung der Rückzug befohlen wurde, mußten die Achtergespanne der Artilleristen zunächst eingegrabene Panzer aus der Verteidigungslinie ziehen, es war kein Treibstoff mehr da. Später ging es dann in eher heilloser Flucht mit der Heeresgruppe Mitte Richtung Westen. Der Krieg endete dann für meinen Vater mit der Kapitulation der Kurlandgruppe. Kapitulation durch den Befehlshaber, Antreten der Mannschaften, Übergabe der Waffen und der Pferde an die Rote Armee und Abmarsch in die Gefangenschaft. Diese führte meinen Vater nach Rostow am Don. Die Kriegsgefangenen arbeiteten in einem Steinkohlebergwerk. Besonders schlimm soll der Winter 1945/46 gewesen sein. Die Rationen sollen sehr knapp gewesen sein. Aber immerhin haben die Kriegsgefangenen ihre Rationen regelmäßig bekommen. Sollten Lebensmittel aus dem Depot geholt werden, zog ein Trupp Kriegsgefangener mit einem Plattenwagen los, begleitet von einer bewaffneten Wachmannschaft. Diese sollte aber nicht die Flucht der Kriegsgefangenen verhindern, sondern ein mögliches Requirieren der Lebensmittel durch die gleichfalls hungernde und oftmals unregelmäßiger versorgte russische Bevölkerung. Unter Tage gab es dann keine Unterschiede. Russischer Bergmann und deutscher Kriegsgefangener arbeiteten Schulter an Schulter. Anerkannt war, wer seine Arbeit gut machte. Und man tauschte Brot gegen Machorka oder Machorka gegen Brot. Als es zu einem Grubenunglück kam, holten die Rettungsmannschaften alle raus, den russischen Kumpel und den deutschen Plen.
1949 kam er aus der Gefangenschaft zurück, nicht in die Heimat aber in die junge DDR. Er kam zurück als Freund der Sowjetunion.
Wie 1941 ziehen auch 2021 wieder Heere gen Osten. Defender Europe 2021 heißt das Manöver, mit dem sich die USA und die ihnen hörigen NATO-Mitgliedsländer zumindest bis an die russische Grenze heran manövrieren wollen. Wer will bestreiten, dass die Gefahr besteht, sich erneut aus einem Manöver in einen Krieg hinein zu manövrieren.
Es müssen ja nicht unbedingt 5 Jahre Kriegsgefangenschaft sein, aber es bedarf auf alle Fälle eines nachhaltigen Erlebnisses, um den am Manöver teilnehmenden Bundeswehrangehörigen die Gefährlichkeit des Handelns unserer politischen und militärischen Führung zu verdeutlichen. Die sicherlich im Rahmen des Manövers stattfindende Truppenbetreuung sollte mit allen Bundeswehrsoldaten die in den Handlungsräumen sicherlich vorhandenen deutschen Kriegsgräberstätten aufsuchen.
Die Gräber der toten Väter und Großväter sollten Ihnen erzählen, dass noch nie ein Eroberer ungestraft russischen Boden betreten und russisches Blut vergießen konnte.
Deren Schicksal soll ihnen Warnung sein. Nie wieder Krieg gegen Russland. Nie wieder Krieg überhaupt.
Traut Keinem, der da sagt, die Russen wollten Krieg.
Traut auch Keinem oder Keiner, und sei Sie auch jung, hübsch und redegewandt, wenn Sie denn behaupten, man müsse Russland nur stärker unter Druck setzen um „goodwill“ zu erlangen.
Europa und insbesondere Deutschland brauchen Frieden und gute Beziehungen zu Russland.
Dies mahnen die mehr als 70 Millionen Tote des 2. Weltkrieges und diese Lehre steht am 22. Juni 2021 erneut und ganz konkret vor uns in Deutschland.