14.03.2024

Deutsche Atomwaffengegner auf der Anklagebank

Von: Helmut Scheben

 

Miriam Krämer und Gerd Büntzly (links vom Transparent) gemeinsam mit Friedensaktivisten vor dem Gerichtsgebäude in Cochem.
Miriam Krämer und Gerd Büntzly (links vom Transparent)
gemeinsam mit Friedensaktivisten vor
dem Gerichtsgebäude in Cochem.

 

Aufrüstung ist jetzt Befehl. Wer gewaltfreien Widerstand gegen die Vorbereitung eines Atomkrieges leistet, wird bestraft. Für die Richterin am Amtsgericht Cochem waren das Urteil und seine Begründung wohl schon vor Prozessbeginn formuliert. Sie brauchte nur wenige Minuten, um zum Urteilsspruch zu gelangen. In der touristischen Weisswein-Stadt an der Mosel fand am 4. März zum einhundertsten Mal ein Strafverfahren gegen Leute statt, die überzeugt sind, dass Frieden nicht mit mehr Atomwaffen zu erreichen wäre, sondern mit weniger Atomwaffen. Solche Menschen werden in Deutschland routinemässig vor Gericht gestellt und verurteilt, wenn sie gewaltfrei gegen atomare Rüstung protestieren.  

Das Gericht in Cochem ist zuständig für den Fliegerhorst Büchel in der Eifel, wo Kernwaffen der Streitkräfte der USA lagern. Das dortige Geschwader der deutschen Luftwaffe übt mit seinen Tornado-Kampfjets den Einsatz von Atombomben vom Typ B61. Diese werden derzeit «modernisiert». Die USA sind dabei, ihre nuklearen Freifallbomben durch neue «smarte» Lenkwaffen-Bomben vom Typ B61-12 und B61-13 zu ersetzen. Deutschland kauft ausserdem von den USA den Tarnkappenbomber F-35, der künftig als Träger für die Atomwaffen dienen soll. (Dieser Kampfjet ist eben für den Transport dieser Atombomben formell zertifiziert wordenRed.)

Miriam Krämer aus Aalen in Baden-Württemberg und Gerd Büntzly aus Herford in Nordrhein-Westfalen wurden letzten Montag wegen Hausfriedensbruchs verurteilt. Sie hatten am 8. Mai 2023 zusammen mit fünf weiteren Personen das Luftwaffen-Gelände in Büchel durch den offenen Eingang für Baustellenfahrzeuge betreten. Frau Krämer schilderte in ihrer Einlassung, man habe das Datum bewusst gewählt, weil es an das Ende des Zweiten Weltkrieges und der Nationalsozialistischen Herrschaft erinnere:

«Ich teilte dem Sicherheitspersonal mit, dass es sich um eine Mahnwache aus diesem Anlass handele und dass keine Bedrohung von uns ausginge. Banner wurden entfaltet. Es entwickelte sich mit den beiden Bediensteten des Sicherheitspersonals eine durchaus respektvolle Diskussion über den Zweck und Ort des Protestes. Als das Personal der Bundeswehr eintraf, setzen wir uns etwa 10 Meter vom Tor entfernt auf die Strasse nieder. Hierdurch sollte symbolisch der gewaltfreie und anhaltende Protestcharakter betont werden.»

Gerd Büntzly (74) hatte der Richterin nichts zu sagen. Er erklärte, die Sachlage sei dem Gericht und auch den höheren Instanzen seit Jahren bekannt. Sie hätten immer die gleichen Verurteilungen ausgesprochen und niemals Beweisanträge zu den Atomwaffen in Büchel zugelassen. Aus diesem Grund verzichte er darauf, sich zu verteidigen und er werde schweigen.

Miriam Krämer (58) verteidigte sich selbst in einem siebenseitigen Plädoyer. Darin bestreitet sie nicht den Tatbestand des Hausfriedensbruchs, beruft sich aber darauf, dass das Gesetz eine Straftat für rechtens erklärt, wenn diese dazu dient, eine weitaus schwerere Straftat abzuwenden und ein Rechtsgut zu schützen, das von höherwertigem Interesse ist als das Verbot, ein umzäuntes Gelände ohne Erlaubnis zu betreten. 

Die in erster Instanz Verurteilte wirft der deutschen Regierung vor, mit der Lagerung von Atomwaffen und dem Training für deren Einsatz gegen das Völkerrecht und den Atomwaffensperrvertrag zu verstossen. Sie verstosse ausserdem gegen das Grundgesetz, welches Handlungen, die das friedliche Zusammenleben der Völker stören, als verfassungswidrig erklärt. Das Strafgesetzbuch kennt den «rechtfertigenden Notstand», wenn es gilt, eine schwere Gefahr für Leben, Leib, Freiheit, Ehre oder Eigentum abzuwehren. Für Miriam Krämer und ihre Mitstreiter kann kein Zweifel bestehen, dass die Vorbereitung eines Atomkrieges eine solche Gefahr darstellt. 

Es ist die Regierung der USA, die über den Einsatz der Kernwaffen entscheidet, die in Büchel liegen. Wenn im Oval Office in Washington der rote Knopf gedrückt würde, befände sich der Bündnispartner Deutschland im Atomkrieg. Die deutsche Regierung beteiligt sich an der US-Rüstungsstrategie mit der harmlos-bürokratischen Parole «nukleare Teilhabe». Nach Angaben des Friedensforschungsinstituts in Stockholm (SIPRI) werden die USA in den nächsten 20 Jahren rund eine Billion Dollar (engl. 1 Trillion) für das sogenannte «updating» ihrer 4000 Atomwaffen ausgeben. 

Aufgewachsen in einer gebildeten, systemkritischen Familie in der DDR, als Jugendliche Ausreise nach Westdeutschland, Musikstudium, später Ausbildung zur Friedensfachkraft und Leitungsfunktionen in der Friedensarbeit und im internationalen Konfliktmanagement, davon zwei Jahre im Sudan: Miriam Krämer sieht sich selbst als eine durchaus etablierte und ordnungsliebende Bürgerin: «Ich fühle mich privilegiert, und mein Leitgedanke lautet: Privileg ist eine Verpflichtung.» 

Ihr politisches Bewusstsein gehe zurück auf die Familiengeschichte: auf den Widerstand ihrer Grossmutter in der Hitler-Zeit, aber auch auf die Dissidenz ihrer Familie in der DDR, die ihr ein Universitätsstudium dort unmöglich machte. Ein Ereignis, das sie später in der Bundesrepublik aufrüttelte, sei die Teilnahme Deutschlands am völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen Restjugoslawien gewesen. Von da an nahm ihre Arbeit in der Friedensbewegung ihren Lauf.   

Miriam Krämer sagte der Richterin, sie halte sich an das Prinzip des zivilen Ungehorsams und des gewaltfreien Widerstandes als Mittel, Regierungsmacht zu korrigieren. Am Telefon sagte sie mir nach dem Prozess: «Ich bin den Leuten in der DDR, die 1989 auf die Strasse gegangen sind, sehr dankbar. Das sind meine Vorbilder. Auch das war damals etwas Verbotenes und Verrücktes. Aber was heute als Unrecht dasteht, kann morgen lobenswert sein.» 

Zu konstatieren, mit dieser Haltung machten Atomwaffengegnerinnen sich in Deutschland derzeit verhasst, wäre eine Untertreibung. Es braust einmal wieder ein Ruf wie Donnerhall, wie Schwertgeklirr und Wogenprall. Die EU werde «auf Kriegswirtschaft umstellen», lauten die Schlagzeilen. Der deutsche Luftwaffenchef erörtert mit Generälen, wie man mit deutschen Taurus-Marschflugkörpern die Krim-Brücke zerstören könne und mit welchen faulen Tricks eine direkte Involvierung Berlins verschleiert werden könne. Die aufgeregte Mediendiskussion dreht sich vor allem um die Frage der «Sicherheitslücke». Wie konnte das Gespräch publik werden? Und der Vorwurf von russischer Seite, Deutschland plane den Krieg gegen Russland? Das kann nur billige russische Propaganda sein. Generäle plaudern halt über dieses und jenes. 

Wer im Ukraine-Krieg nach Waffenstillstand statt nach Waffenlieferungen ruft, gilt unverzüglich als Bewunderer des Wladimir Wladimirowitsch, von dem der Zürcher Tagesanzeiger annimmt, er sei «ein banaler, brutaler Strassenschläger, der gerade so weit denken kann, wie seine Faust reicht» (8.3.2024.) Die vielbeschworene Zeitenwende scheint eine neue Epoche der Scheiterhaufen und Hexenverbrennungen einzuläuten. Zumindest ist dies der ideologische Tonfall in führenden Medien, die gegen die «Lumpenpazifisten» (Der Spiegel) mobil machen. 

Donald Trump deutete mit einer seiner flapsigen Bemerkungen an, die Europäer müssten mehr aufrüsten, sonst werde er ihnen nicht mehr militärisch beistehen. Ein flächendeckendes Wehgeheul in ganz Westeuropa war die Folge.  «Braucht Europa eigene Atomwaffen?» fragt der Deutschlandfunk. Dass es in Frankreich, Grossbritannien und Deutschland schon genug Atomsprengköpfe gibt, wird mit diesem Titel kaschiert. Katarina Barley, SPD-Spitzenpolitikerin für die Europawahl, ist der Meinung, eigene EU-Atombomben könnten «ein Thema werden», weil auf den Schutz Europas durch den US-Atomschirm kein Verlass mehr sei. 

Selbstverständlich weiss jeder, der bis drei zählen kann, dass ein nuklearer Schlagabtausch dem Auftakt zur globalen Selbstzerstörung gleichkäme. Frappierend ist daher die Obsession, mit der manche Politiker und Journalisten sich derzeit am Thema der atomaren Katastrophe festbeissen. Das Szenario eines russischen Atomwaffenangriffs wird unablässig herbeigeschrieben.

So paradox es klingen mag: Es gibt Neurotiker, die das Jüngste Gericht herbeisehnen, um am Ende Recht zu behalten. Als wünschten sie das Eintreten der nuklearen Katastrophe nach der Devise: «Wir haben ja immer gesagt, dass der Satan Putin vor dem Weltuntergang nicht zurückschreckt.» Die so denken, lassen sich nur ungern daran erinnern, dass es bisher nur einen Staat auf der Welt gibt, der Städte nuklear vernichtet hat. Am 6. August 1945 warfen die USA eine Atombombe mit dem Namen «Little Boy» auf Hiroshima. Von den 300’000 Einwohnerinnen und Einwohnern wurden binnen vier Monaten 140’000 getötet und ungezählte weitere zu langjährigem Leiden verdammt. Die Nuklearsprengköpfe, die in Büchel lagern, haben ein Vielfaches der Sprengkraft der Hiroshima-Bombe. 

Douglas MacArthur, der Oberbefehlshaber der US-Streitkräfte im Pazifikkrieg, sagte dem Wissenschaftsjournalisten Norman Cousins, er sei von Washington vor dem Abwurf der Bomben in Hiroshima und Nagasaki nicht konsultiert worden. Der amerikanische Kriegsheld erklärte Cousins, die grösste Gefahr bestehe darin, dass die Völker der Welt nicht erkannt hätten, dass es mit dem Entstehen der Atombombe keine militärische Sicherheit im herkömmlichen Sinne mehr geben könne. In einer Rede in Los Angeles sagte MacArthur 1955, seit es der Wissenschaft gelungen sei, die totale Vernichtung herzustellen, sei es nicht mehr möglich, internationale Differenzen durch Krieg zu bereinigen. MacArthur wörtlich: 

«Krieg ist ein Frankenstein geworden, der beide Seiten zerstört (…) Die hunderte Milliarden Dollar, die wir in die Rüstung stecken, könnten wahrscheinlich die Armut aus der Welt schaffen.» (Norman Cousins: The pathology of Power. New York 1987. S.67)

Den Betreibern der atomaren Kriegsaufrüstung könnte es gehen wie dem Zauberlehrling: Da wird ein Ungeheuer gezüchtet, das sich früher oder später der Kontrolle seines Schöpfers entzieht. Denn die Existenz solcher Waffen stellt keinen «Schutzschirm» und keine «Sicherheit» her, sondern ein Sicherheits-Hochrisiko. Bei extrem komplexen, elektronisch gesteuerten Systemen von Massenvernichtungswaffen wird es früher oder später eine Panne geben. In der Vergangenheit sind wir mehrmals um Haaresbreite an der Katastrophe vorbeigekommen.  

Präsident Dwight D. Eisenhower, der in seiner berühmten Abschiedsrede 1961 vor der Gefahr warnte, dass der «militärisch-industrielle Komplex» übermächtig werden könne, sagte dem erwähnten Journalisten und Friedensforscher Norman Cousins: «Ich will nicht, dass Leute, die finanzielle Interessen an Spannungen und Krieg haben, in der nationalen Politik mitzureden haben.»

Die Kräfte, die die Rüstungsspirale antreiben, sind wichtige – möglicherweise die wichtigsten – Wirtschaftsmotoren. Die meisten grossen Konzerne des Westens verdienen an der gigantischen Aufrüstung und am «Wiederaufbau» nach jedem Krieg. Das geht vom reinen Waffenbusiness über Bauwesen, Transport, Food, Kleidung, Energie bis hin zur Telekom- und IT-Branche. Ein Zitat aus der französischen Satire-Zeitung Charlie Hebdo: «Der Krieg ist dann zuende, wenn die Waffenhändler ihre Quote erreicht haben und die Betonhändler meinen, es wäre jetzt an der Zeit, dass sie die Bühne betreten.» 

Miriam Krämer sagte mir am Ende eines längeren Gesprächs: «Wir sind uns bewusst, dass wir Gesetze brechen. Wir überschreiten damit eine Schwelle. Wir tun etwas, das verboten ist. Und wir tun das nicht, weil wir Freude daran haben. Ich frage mich oft: Was mache ich da eigentlich? Daher habe ich der Richterin auch gesagt: Im Grunde entscheiden Sie nicht über einen Hausfriedensbruch, sondern über mein Leben, über meine Lebenshaltung: dass ich nämlich als mündige und gebildete und sehr verantwortungsvolle Bürgerin diese Straftat begehe, weil ich meine Pflicht darin sehe, auf Unrecht aufmerksam zu machen. Und ich denke, solche Bürger muss es geben in einer Demokratie.» 

Sie wurde zu einer Strafe von 30 Tagessätzen verurteilt. Die genaue Summe muss noch festgesetzt werden. Sie hat Berufung eingelegt.

 

Link zum Originalartikel:  GlobalBridge

 

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