18.08.2023

Putin: Herr des Geschehens?

von Jacques Baud
erschienen am 10.07.2023

   
Von der Art und Weise, wie wir eine Krise verstehen, hängt es ab, wie wir sie lösen. Die häufig unvollständige Darstellung der Vorgeschichte des Ukraine-Kriegs in vielen europäischen Medien und in der Politik hat durch zu einfache und einseitige Schuldzuweisung die Chancen auf eine Verhandlungslösung verringert. Auf der Grundlage von Dokumenten, die hauptsächlich von den USA, der Ukraine, der russischen Opposition und internationalen Organisationen stammen, stellt dieses Buch einen sachlichen Blick auf die Realität dar und öffnet die Tür für eine vernünftigere und ausgewogenere Einschätzung des Kriegs in der Ukraine.
 
 
 
 

Aus dem Vorwort des Buches:

In jedem Konflikt hängt die Lösung davon ab, wie er zu verstehen ist. Die
Gefahr bei tragischen Ereignissen besteht darin, dass wir sie emotional dominiert betrachten und sie beurteilen, bevor wir sie analysiert haben. Genau das haben wir bei der Ukraine-Krise getan. Wir haben die Liebe zur Ukraine mit dem Hass auf Russland vermengt.

Wenn wir der Ukraine wirklich helfen wollten, hätten wir viel früher gehandelt, um die Lösungen umzusetzen, für die wir uns eingesetzt hatten. Das haben wir nicht getan.

Die erste Frage, die wir uns stellen müssen, lautet: Was genau sind die Werte, die wir angeblich verteidigen? Unsere moderne europäische Kultur orientiert sich an diesen Werten, die auf die Revolution der »Aufklärer« zurückgehen, wie Montesquieu, Voltaire, Rousseau, Descartes, Diderot, die den Absolutismus bekämpft haben. Sie sagten nicht, dass es keine »Guten« und »Bösen« mehr geben dürfe, sondern dass man vielmehr auch die Art und Weise, wie Probleme behandelt werden, den Parametern der Aufklärung unterwerfen müsse: Nicht mehr die göttliche Eingebung oder die Leidenschaft sollten die Entscheidung leiten, sondern die Vernunft und
die Analyse der Fakten. Und zwar aller Fakten. Die, die uns gefallen, sowie die, die uns missfallen.

Aber das Erfassen von Fakten kann nur erfolgen, wenn man bereit ist, Ansichten zuzuhören, die nicht die eigenen sind. Voltaire wird dieser Satz zugeschrieben, der heute vergessen zu sein scheint: »Ich stimme nicht mit dem überein, was Sie sagen, aber ich werde bis zum Tod dafür kämpfen, dass Sie das Recht haben, es zu sagen.«

Aber genau das beherzigen wir nicht: Wir verbieten unbequeme Medien, und Menschen, die im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine eine andere Meinung haben, werden automatisch als »Putin-Agenten« verurteilt.

Wer hat die Angriffe auf die Zivilbevölkerung im Donbass zwischen 2014 und 2022 verurteilt? Wer hat die berichteten Massaker an Zivilisten im Donbass verurteilt? Wer hat unsere führenden Politiker in Frankreich, Deutschland und der Ukraine verurteilt, die zugegeben haben, dass sie nie die Absicht hatten, das Minsker Abkommen, das sie unterzeichnet hatten, umzusetzen? Wer hat das Gesetz von 2021 verurteilt, das ukrainischen Bürgern je nach ihrer ethnischen Herkunft unterschiedliche Rechte einräumt und damit diese Rechte nicht davon abhängig macht, was man tut, sondern davon, was man ist? Wer verurteilte die Ermordung ukrainischer Friedensverhandler durch ihre eigenen Sicherheitsdienste im Jahr 2022?

Die militärische Intervention war vielleicht nicht die beste Lösung, aber was haben wir getan, um sie zu verhindern?

Wir leben in einer Gesellschaft, die urteilt, bevor sie etwas weiß. Wir stützen die Kritik an unseren politischen Entscheidungsträgern nicht auf die Weisheit ihrer Entscheidungen, sondern auf die Geschwindigkeit, mit der sie diese getwittert haben. Das trifft nicht nur auf Frankreich zu, auf das sich die meisten Fallbeispiele dieses Buches beziehen. Eine Analyse der
Medien in anderen europäischen Ländern würde zu denselben oder zumindest sehr ähnlichen Ergebnissen führen.

Wir haben gesagt, Russland sei schwach; es ist heute aber stärker als vermutet. Wir haben gesagt, dass die Sanktionen es zusammenbrechen lassen würden; seine Wirtschaft ist in besserem Zustand als unsere. Wir haben gesagt, dass die Bevölkerung Wladimir Putin ablehnen und gegen ihn rebellieren würde; aber sie unterstützt ihn. Wir haben gesagt, dass Russland keine Raketen hat; es hat seitdem gleichwohl Hunderte von Raketen abgeschossen. Wir sagten, es habe keine Munition mehr; es schießt allerdings zehnmal so viel wie die Ukraine. Wir sagten, die Ukrainer hätten keine Verluste; sie haben jedoch zehnmal so viele Verluste wie die Russen. Indem wir alles gewinnen wollen, sind wir dabei, alles zu verlieren. Langsam zeigen uns die Fakten, dass die westliche Rhetorik falsch war. Sie
hat die Ukraine nicht nur davon abgehalten, in einen Konflikt zu treten, sondern sie verbietet uns darüber hinaus, ihn zu beenden. Wir haben nicht auf das gehört, was die Ukrainer uns gesagt haben, sondern nur auf die Propaganda ihrer Regierung und auf unsere eigenen Vorurteile.

Es ist einfach, mit dem Blut anderer Krieg zu führen. Daran hat sich leider auch nichts geändert, seitdem die französische Original-Version in der ersten Hälfte 2022 erschienen ist.

Es ist Zeit, unsere Vorurteile aufzugeben und zur Vernunft zu kommen. Es ist Zeit, sich zu verändern und zu den Fakten zurückzukehren. Unsere Aufgabe als Europäer ist es nicht, eine Seite zu unterstützen, sondern alles zu tun, damit das Töten aufhört. Es geht nicht darum, wer »gut« oder »böse« ist, wer »gewinnt« oder »verliert«, sondern darum, einen Dialog zu eröffnen.

Und genau um diese Thematiken soll es in dem Buch gehen.

 

Herausgeber:  Westend
ISBN:             3864894263
Preis:             26,00 €


 

Zum Autor:

Jaques Baud hat einen Master in Ökonometrie und ein abgeschlossenes Nachdiplomstudium in internationaler Sicherheit und internationalen Beziehungen. Er arbeitete als für die Ostblockstaaten und den Warschauer Pakt zuständiger Analyst für den Schweizer Strategischen Nachrichtendienst und leitete die Doktrin für friedenserhaltende Operationen der Vereinten Nationen New York. Dort war er zuständig für die Bekämpfung der Proliferation von Kleinwaffen bei der NATO und beteiligt an den NATO-Missionen in der Ukraine.

 

 

 

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